Reinhard Linde

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Auswahl Totalitarismus
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Auszug aus dem Aufsatz:
Im Liebesstrom zum Globalfaschismus?
Sloterdijk, Heidegger und die Gewalt des Menschen über den Menschen
erschienen in dem Buch:
Bin ich, wenn ich nicht denke?
Studien zur Entkräftung, Wirkung und Struktur totalitären Denkens
Centaurus Verlag Herbolzheim 2003

 

Inhalt
Sloterdijks Thema: die globale Züchtungsgesellschaft
Sloterdijks Basis: Volk und Elite bei Heidegger
Sloterdijks Antisemitismus: die Katastrophe von 1945
Sloterdijks Anspruch: die Gewalt des Menschen über den Menschen
Sloterdijks Traum vom Terror: das Abenteuer der Hominisation

Einleitung

Der auch unter Wissenschaftlern und Intellektuellen weitverbreitete prinzipielle Antidemokratismus, der nicht nur irgendwie „in der Luft“ liegt, sondern in den weithin für honorig geltenden Stiefeln einer affirmativen Lektüre der modernen Klassiker der Demokratieverachtung daherkommt, beruft sich stets darauf, daß die Demokratie die Individualität durch Gleichmacherei entwerte und deshalb eigentlich eine Tyrannei oder ein Entrechtungssystem sei. Die sich ihr nicht entziehenden Menschen - die Masse - , die durch sie entfremdet werden, könnten sich aber nicht von ihr befreien. An dieser Stelle hebt nun ein übermassenmenschlicher Elitismus an, mit dem die Antidemokraten die Mehrheit der Menschen zunächst auf der betrachtenden, dann aber auch auf der praktischen Ebene gleicher behandeln, als sie es in den mehr oder weniger demokratischen Staatsformen tatsächlich sind - als gleich unfähig, ein eigentliches Leben zu führen. Nicht nur marginale Teile der Intelligenz bewegen sich in Denkbahnen, die in ihren praktischen Konsequenzen auf regressive, gewaltsame Homogenisierungen der Mehrzahl der Menschen durch eine sich übermenschlich dünkende Elite hinauslaufen. Daher hat Sloterdijks Elmauer Rede, die für sich gesehen als nicht einmal wirklich eloquente Provokation ignoriert werden könnte, eine symptomatische Bedeutung. Es ist sachlich gesehen relativ unerheblich, welcher Begriff für die Bezeichnung solcher Bestrebungen gewählt wird. Sloterdijks Auslassungen sollen deshalb hier auf ihre praktische Bedeutung hin untersucht werden. Ihre Bestimmung als faschistoid, prätotalitär, totalitär oder elitaristisch ist dagegen eine nachgeordnete, wenn auch unverzichtbare ergänzende Angelegenheit.
Es ist erstaunlich, daß die meisten Rezensenten der Elmauer Rede Sloterdijks deren eigentliches, sozialpolitisches Thema nicht erkannten und sich an dessen Vortäuschung eines moralischen Einwandes gegen Gefahren versehen haben, die die heutige gentechnische Praxis heraufführe. Sloterdijk ist es in gewissem Maße gelungen, einige demokratie-politisch und durch einseitige Zivilisationskritik verunsicherte, aber durchaus humanistisch gesinnte Rezipienten mit der Hilfe von rhetorischen Klebeflächen zu neutralisieren.[1] Autoren und Journalisten dagegen, die die klare politische Botschaft in den geschwollenen wie direkten Sentenzen Sloterdijks ausmachten, fanden sich in der Defensivposition wieder. Doch man kann ihnen die textliche Grundlage für ihre Auffassung nicht nehmen. Und da die Texte verbreitet wurden und zugänglich sind, wird es skandalös, daß nach der verflossenen Salonwürdigkeit von Nazismus, Stalinismus, Mao-Marxismus und Ökofaschismus in Deutschland eine neue, unvermutete „Theorie“ der systematischen Unterjochung ehrbare Podien und Zeitschriften als Verbreitungsmedien gewann. Zwar war Sloterdijk bis dahin noch nicht als sozialtheoretischer Extremist hervorgetreten, doch spätestens bei den Kreischgeräuschen, die seine Bestimmung der humanitas als „Gewalt des Menschen über den Menschen“ begleiten, und weiterem dazu Gehörendem kann realisiert werden, daß es sich hier um den Aufruf zur Bildung einer tyrannisch-menschenformenden Elite handelt, die sich durchaus staatlicher Stützung versichern soll. Inwiefern Sloterdijk dafür eine onto-anthropologische Rechtfertigung konstruierte, soll hier untersucht werden.

Die sehr zurückhaltende Reaktion von Habermas auf Sloterdijks Elmauer Rede könnte sehr viel mit dessen Berufung auf Heidegger zu tun haben.[2] Sloterdijk, dessen Herkunft aus Adornos Aufklärungskritik noch seiner antihumanistischen Kampagne anzumerken ist, ist gleichwohl auch ein Zögling des gadamergefilterten Heideggerianismus von Habermas und trachtet nun, Habermas die Interpretationshoheit über Heidegger, die er ihm zu beanspruchen unterstellt, aus der Hand zu reißen. Dabei kann er sich sogar auf eine Habermassche Methode berufen. Die „Rezeptionsbedingungen“ (also die Prinzipien der Interpreten) eines Werkes seien vom Verhalten des Autors „weitgehend unabhängig“, wenn man sich auf dessen Argumente einlasse und sie aus dem „weltanschaulichen Kontext heraushebt“, schrieb dieser in Bezug auf das Werk Heideggers. Dieses habe sich „längst von seiner Person gelöst“[3]. Sollte das so sein, dann kann auch Sloterdijk damit machen, was er will. Er kann es zum Beispiel der „unsichtbaren Kirche“ als vorläufige Stimme des „Über-Autors“, des Seins, empfehlen. Vor allem aber kann er das ganze individualitäts- und menschenfeindliche Potential des heideggerschen Werkes für seine aktuelle Unterjochungs-Programmatik der „pränatalen Selektion“, der „Gewalt des Menschen über den Menschen“, der „Betreuung“ „konfuser Lebewesen“ durch den „wahren“ und zu ihnen „spezifisch differenten“ Züchter und der „Züchtung eines Staatsvolkes“ fruchtbar machen.

Aus: Sloterdijks Thema: die globale Züchtungsgesellschaft

Der Gang der Rede Sloterdijks in Elmau kann auf eine leichtverständliche Formel verknappt werden. Gezüchtet wurden Menschen zu allen Zeiten, mit welcher Absicht und Bevorzugung ausgewählter Eigenschaften auch immer. Der Humanismus organisierte sich zunächst als abgetrennte Elite, die eine über viele Jahrhunderte anhaltende soziale und geistige Vormachtstellung errang. Unter dem erklärten Ziel der Entbestialisierung brachte sie jedoch lauter harmlose, domestizierte Menschlein hervor. In unserem Jahrhundert stellte sich heraus, daß dieser Massenmensch durchaus nicht wirksam und tiefgründig entbestialisiert worden war. Angesichts dieses kläglichen Resultats mußte die humanistische Elite ihre führende Position aufgeben. Nun ist ihr sozialer Platz unbesetzt, niemand fällt den bestialisierenden Medien in den Arm und irgendwelche Stümper machen sich daran, ohne allgemeines Ziel mit Hilfe der Gentechnik Menschen zu züchten. Da nur Philosophen einen hohen Begriff vom Menschen haben, das heißt allein sie - wie Platon, Nietzsche und Heidegger - leidenschaftlich-imaginativ die kleinen Massenkrüppel zu überwinden wissen, müssen sie nun die Züchtungshoheit übertragen bekommen und einen Codex von Züchtungsprinzipien aufstellen.

Wo liegt der Schwerpunkt in dieser Konstruktion? Vor dem Hintergrund seiner Charakterisierung des „Humanismus“ als Züchter von haustierlichen Menschen ist zu vermuten, daß die neue philosophische Elite nur noch nicht-harmlosen Menschen soziale und kulturelle Entfaltungs- und Fortpflanzungschancen eröffnet, Menschen, die im Sinne der hier waltenden semantischen Tendenz „gefährlich“ zu nennen wären. Das scheut sich aber Sloterdijk unmißverständlich und mit eigenen Worten auszusprechen. Vielmehr will er den Eindruck erwecken, daß durch eine zentralisierte und planmäßige gentechnische Beeinflussung der Individuen im „Menschenpark“ zukünftig eine Ausbreitung und Eskalation des „Bestialischen“, wie sie historisch wiederholt geschah, dauerhaft verhindert werden könne. Nun handelt es sich in diesen beiden durchaus nicht vergleichbaren Hinsichten zunächst nur um die Evokation von unwillkürlichen Gefühlen: niemand wird ein harmloses, wehrloses Herdenwesen sein wollen, das ein Geschehen nur erleidet und blind gehorchen muß, und niemand wird bestialisch sein wollen, das heißt ohne irgendeine Rechtfertigung durch einen „guten“ Zweck morden oder sich an Mord und Totschlag ergötzen. Sachlicherweise erhebt sich dann aber die Frage, worin das solcher Auslese immanente Kriterium besteht, das erkennen läßt, ob ein nicht-harmloser Mensch nicht etwa ein bestialer ist, und dessen Anwendung verhindert, daß Nicht-Harmlosigkeit unversehens in Bestialität umschlägt.

Sloterdijk selbst begegnete dieser Frage präventiv mit einem strategischen Kalkül. Wenn er den Humanismus dafür verantwortlich macht, sein Ziel verfehlt und eine Entbestialisierung trotz jahrhundertelanger Einwirkung nicht herbeigeführt zu haben - weil Domestikation und Verkleinerung des Menschen dazu nicht die geeigneten Mittel seien - , dann soll es sich von selbst verstehen, daß eine Vergrößerung des Menschen jenes Ziel erreichen würde. Der nicht-harmlose Mensch soll also eo ipso der nicht-bestiale sein. Sloterdijk tut so, als würde er die Menschen von ihrer bestialischen Lust an den täglichen Schießorgien im Fernsehapparat befreien wollen. Aber erwähnt er auch nur mit einem Wort, daß es darum geht, reale Massenmorde wie in Ruanda und Bosnien zukünftig zu verhindern?
Es ist bereits vielerorts vermerkt worden, daß Sloterdijk nicht erklärt, worin die Auslesekriterien für die angeblich notwendige Züchtung, die konkreten Aufgaben der züchtenden Übermenschen und die verläßlichen Unterschiede zwischen Bestialität und Größe bestehen sollen. Diese Anmahnungen sind verwunderlich, denn er erklärt eindeutig, daß er beide Fragen nicht beantworten will: „Die Aufgabe dieses Über-Humanisten wäre keine andere als die Eigenschaftsplanung bei einer Elite, die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muß.“[4] Das heißt, nicht die Erstellung eines „Codex von Anthropotechniken“ ist die heutige und von ihm zu leistende Aufgabe, sondern die - durchaus nicht öffentliche - Planung von Eigenschaften an einer Elite und deren entsprechende Auslese durch „den“ Überhumanisten. Erst wenn sich diese Elite etabliert hat, wird sie jenen Codex ausarbeiten und die Gesellschaft planvoll nach seinen Maßgaben umzüchten.
Eine solche Elitenbildung und revolutionäre Tiefenstrukturierung der (Welt)Gesellschaft kann natürlich nicht durch etwas erfolgen, was Sloterdijk einen humanistisch-literarischen (Zwangs)Freundschaftsverband nennt. Er fordert deshalb, durch die Sprechmaske Platons, vom politischen Arm Unterstützung für die Etablierung eines Philosophenclans und seine Ausstattung mit realer Macht. Das Thema Sloterdijks ist also der allgemeine politische Umbau in Richtung auf eine dualistische Sozialstruktur aus wenigen, evolutionsbiologisch-planvorgebenden Oberzüchtern und einer in „Parks“, also vorrangig dorfartig gehaltenen Menschenmasse, die sich deren evolutionäre Ziele zu eigen gemacht hat, diese an sich selbst verwirklichen läßt und in subalterner Position selbst an der Erreichung dieser Ziele mitwirkt. Er ruft zur Sammlung von Denkern auf, die sich dem Problem der biokulturellen Ziele der Evolution zu nähern fähig sind und will mit Heidegger, Nietzsche und Platon notwendige Gründe für eine „Besinnung“ auf eine derartige soziale Umwälzung liefern.

Sloterdijk bestimmt die Aufgaben der Züchtungselite nicht detailliert, und zwar auch deshalb nicht, weil es keinen „öffentlichen Kanon der Seinswinke“ geben könne [5]. Diese Haltung geht auf das Prinzip zurück, die programmatische Substanz in der Begründung des Herrschaftsanspruches sich erschöpfen zu lassen, während alles nachfolgende konkrete Tun der Willkür der Allherrscher überlassen bleibt, die sich die höheren, aus nicht kommunikativen Quellen stammenden Einsichten zuschreiben. Es geht in der Rede Sloterdijks in Elmau nicht um ethische Fragen, die die heute agierende Gentechnik und ihre zu erwartenden Möglichkeiten aufwirft. Kategorisch erklärte er später selbst, „Ich werde mich an keiner Ethikdiskussion beteiligen. Das ist ein Tummelplatz gescheiterter Philosophen und drittklassiger Denksportler.“[6]
Das Tun der Gentechniker hält Sloterdijk für planlos und hinsichtlich einer allgemeinen Entbestialisierungsaufgabe, die er ihnen abfordert, für wirkungslos [7]. Es interessiert ihn vor allem, wie eine weltweite Bemächtigung der Genlabors (durch eine von evolutionspolitischer Eintracht zusammengeschweißte Elite) gerechtfertigt, initiiert und herbeigeführt werden kann. Die Verpflichtung auf die „Ziele“ der „Evolution“, die vom „Humanismus“ sträflich mißachtet wurden, soll die ethische Zuverlässigkeit dieser Elite gemäß der Unterstellung verbürgen, evolutionäre Prinzipien seien eo ipso auch in ethischer Hinsicht unproblematisch und von fragloser Natur. Es geht um eine ontologisch-faktische „Gemeinschaft“ aus ontologisch-faktischen Züchterhirten und ontologisch-faktischen, „konfusen Lebewesen“ als das zu haltende Gattungsmaterial.

Die Frage, auf welchem politischen Wege die globale geschlossene Gesellschaft zustande kommen soll, beantwortet Sloterdijk ebenfalls nicht. Es ist ihm zunächst wichtiger, mögliche Adepten mit revolutionärem Eifer aufzuladen und das Haupthindernis auf seinem Wege, den „Humanismus“, zur Strecke zu bringen. Für anderes Herrschaftswissen verweist er orakelnd auf „Unzugängliches“. Was kann er dabei im Auge haben? Die Schriften derer, auf die er sich ausdrücklich bezieht, also das opera omnia von Heidegger sowie Platons und Nietzsches Werke, sind zugänglich. Die beiden letzteren haben ihre Ansichten über die ontologischen Differenzen zwischen den Menschen offen und übersichtlich dargelegt. Allerdings hat Heidegger seine diesbezüglichen Haltungen mit begrifflichen Manövern verdeckt oder in Randbemerkungen versteckt, sodaß deren Zugänglichkeit durchaus erschwert ist. In noch höherem Maße aber ist die Wiege der heideggerschen Philosophie sozusagen unzugänglich, indem die Schriften der katholischen Antimodernisten, die um die Jahrhundertwende einem „unfehlbaren“ Papst Propagandamaterial gegen die kritische und rationale Philosophie, die Naturwissenschaften und das moralisch selbstverantwortliche Subjekt lieferten, selbst für gebildete und fachliche Interessenten nur mühselig auffindbar sind. Daß Sloterdijk bei der genannten Anspielung diese Autoren im Auge gehabt haben dürfte, ist einer Bemerkung in einem Interview zu entnehmen. Er forderte seinen Partner auf, die katholischen Antimodernisten zu lesen, wo er „die ganze Moderne verflucht im Namen des Unverfügbaren“ finde [8]. ...

Aus: Sloterdijks Antisemitismus: die Katastrophe von 1945

Sloterdijk wie Heidegger verwenden den Begriff Haus nicht nur als Metapher, sondern ebenso als Inbegriff von Bodenständigkeit und suggerieren die Herstellung von Eintracht der Hegenden und Gehegten. Doch dieses Versprechen an das allgemeine Volk ist eine Lüge. Denn wo Häuser stehen, müsse angeblich entschieden werden, was aus den sie bewohnenden Menschen werden soll: die „Lichtung“ - also der Platz zwischen den Häusern - sei ein „Kampfplatz und ein Ort der Entscheidung und der Selektion“, durch die Tat entscheide sich, welche „Arten von Häuserbauern zur Vorherrschaft kommen“[9]. Das bedeutet, die neuen Hüter der Menschen müssen zuerst die alten entmachten. Und da das Volk dabei kaum nur zusieht, sondern Partei ergreift oder geradezu gezwungen wird, Partei zu ergreifen, spricht Sloterdijk hier die Bedingung der seinsmäßigen Befriedung aus: den Bürgerkrieg und den permanenten Terror. Seit Platons politischen Schriften erscheine die „Menschenhaltung“ als eine „zoo-politische Aufgabe“, Nachdenken über Politik sei eine „Grundlagenreflexion über Regeln für den Betrieb von Menschenparks“ und die Würde des Menschen bestehe darin, „sich selbst“ in den „politischen Themenparks“ zu „halten“ [10]. Dergleichen bezeichnet eine unglaubliche Verachtung und Distanz zur Menschenwelt, die Behandlung der „gewöhnlichen“ Menschen als bloßes Material, das sich glücklich schätzen soll, in der „Menschengemeinschaft“ [11] gehalten zu werden. Es ist nun unausweichlich, daß ein Bürgerkrieg unter dem Vorzeichen einer (zunächst internen) ethno-politischen Neuordnung zwangsläufig zu einem permanenten Krieg ausartet. Menschenhaltung ist ein unmenschliches Ziel, und weil Menschen nicht zu einem Gegenstand von Zoo-Politik degradierbar sind, sondern immer als Menschen nachwachsen, ist der Kampf darum, sie gegen ihre soziale und körperliche Natur und Eigenständigkeit „halten“ zu wollen, ein unaufhörlicher. „Aber das Wesen (verbal) des Menschen ... ist nichts Menschli-ches“ [12], hatte Heidegger vorgegeben. Folgerichtig und bellt Sloterdijk „Vor uns liegt ein Weltalter, in dem der Unterschied zwischen Siegern und Verlierern“ wieder mit „antiker Härte und vorchristlicher Unbarmherzigkeit an den Tag tritt.“ [13]

Wo dem Kult des heroischen, vordemokratisch-ständischen, spartanisch-militanten und angeblich volkhaften Griechentums gehuldigt wird, ist der Antisemitismus nicht fern. Sloterdijk tritt die diesbezüglichen Fußstapfen Heideggers mit einigen scheinbar marginalen, aber um so komprimierteren Bemerkungen breiter aus. Einem bestimmten antisemitischen, intellektuell scheinbegründeten Gesinnungsschema folgend, macht er das Judentum als alttestamentarische Religiösität für die Barmherzigkeits- und Liebesintention des neutestamentlichen Christentums verantwortlich. Es kommt die Beschuldigung an dieses heraus, es hätte sein eigentliches, potentielles Wesen der Förderung archaisch-biologischer Überlegenheitskämpfe mit Siegern und Verlierern durch den Glauben an das allmächtige Geist-Individuum Christus gleichsam verraten. Das ist genau der nietzscheanisch unterfütterte, katholische Antisemitismus, der meinte, dem Christentum seinen angeblich deformierenden, passiven Jammer- und Ergebungsscharakter durch Austreibung des jüdischen Erbes nehmen zu können. Er war ein Hauptbestandteil der katholischen Muttermilch Heideggers und veranlaßte große Teile des oberen und unteren Kirchenvolkes, sich zwanglos verschiedensten Heidnisierungskampagnen innerhalb der Kirche selbst hinzugeben. Eine der daraus resultierenden Varianten war dann das Bild von Christus als dem Urbild und der Inkarnation des Ariers schlechthin, das Lanz von Liebenfels propagierte und Hitler nahebrachte. Ekelerregend schwülstig und von der Art der typischen pseudohomosexuellen Arschkriecherei jeweils niederrangiger Männer gegenüber ihren Vorgesetzten innerhalb von abgeschotteten Machthierarchien, der die gierige Vergottung des jeweiligen Rottenführers korrespondiert, ist auch Sloterdijks Heidnisierung von Christus zum „sphärischen“ Geist-Gott, zu der die benannte Projektion auf den allschuldigen Juden gehört. Angesichts des Gemäldes Der Verrat des Judas von Giotto giftet er, es könne zu keiner „intimen Allianz“ zwischen Verräter und Christus kommen, weil Judas das „sphärische“ Angebot des Erlösers, in dessen „Raum“ zu treten, nicht annehme und sein Blick verrate, daß er in „gieriger Isoliertheit“ verharre [14].

Sloterdijk ließ nach seiner Elmauer Rede die Katze aus dem Sack, als er, sich des Pathos halber mit Heine gleichsetzend, Habermas vorwarf, „zwischen Hamburg und Jerusalem“ herumtelefoniert zu haben. „Freilich manifestiert sich der theologische Genius des Judentums darin, daß er wie bei keinem anderen Volk zu einer moralischen Verinnerlichung der Niederlagen imstande war. Ausmerzungen verinnerlichen zu können, wird zum Geheimnis des völkischen Überlebens. Daher kann sich in Jerusalem nie eine Theorie griechischen Stils ausbilden ... Was dieses Denken wachhält, ist die quälende Frage, wer noch leben darf, wenn alles, was geschieht, das Werk einer ausmerzenden und verschonenden Gerechtigkeit ist.“ [15] Das ist rhetorisch aufgepeppter, reiner faschistisch-nationalsozialistischer Geist, der alle bekannten Begriffsregister zieht: Genius des Judentums heißt mächtiger, gefährlicher Judengeist; Verinnerlichung der Niederlagen evoziert abstoßende Schmählichkeit und heißt, es kommt vielmehr auf Sieg an; Geheimnis völkischen Überlebens ist in Bezug auf die Juden zynisch und soll vielmehr dazu aufstacheln, das Geheimnis des eigenen völkischen Überlebens zu entdecken, freilich fern vom schmählichen Ausgemerztwerden; in Jerusalem heißt, seht, da ist er, der heutige, reale jüdische Staat, der dauernde Herd des Ausmerzung hinnehmenden Judengeistes; eine Theorie griechischen Stils ist dann wohl das genaue Gegenteil zu diesem, also Kampf und Sieg; und schließlich fehlt nicht die hetzerische Suggestion, daß der Judengeist an nichts anderes denke, als die Existenzberechtigung anderer Völker in Frage zu stellen, weil er sich der Gewalt der Ausmerzung und Verschonung selbst bemächtigen wolle - denn er fragt sich, wer noch leben darf. Die differenten Nuancen zum bekannten Antisemitismus alten Stils rühren daher, daß nach dem ungeheuren Judenmord nun nicht mehr die Gefahr rassischen Verderbens durch die Juden beschworen wird, sondern die Gefahr, die von ihrer Ausmerzungserfahrung herrührt: sie soll darin bestehen, daß sich die Juden von ihr her das moralische Recht nehmen würden, über das Existenzrecht anderer Völker „nachzudenken“. ...



[1] Günter Figal beispielsweise sieht in Sloterdijks Berufung auf Nietzsche und Platon, daß ihm die Anthropotechnik wie bei diesen Bildung, Erziehung zur Tugend, Verwirklichung der menschlichen Natur, Einübung ins freie und vernünftige Handeln und Freiwilligkeit in der „Herdenwartung“ bedeute. Da er das meine, sei es „falsch“, wenn er von Technik, Menschenzüchtung und Selektion rede (Figal in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.9.1999). Aber Sloterdijk sprach in Elmau nur über Anthropotechnik, Menschenzüchtung und Selektion, dagegen überhaupt nicht über Bildung, Erziehung zur Tugend und Einübung ins freie und vernünftige Handeln (all dies subsumierte er vielmehr dem betrügerischen „Humanismus“). Das ist nicht „falsch“, sondern heißt nur, daß ihm jene Aspekte bei Nietzsche, Platon und Heidegger weitaus wichtiger sind als Figal. Deren tendenziell totalitäre gesellschaftspolitische Vorstellungen können aber nur in privater, nicht in öffentlicher Lektüre aus den Texten heraus eskamotiert werden.
K.H. Bohrer meint, ein Faschismusverdacht gegenüber Sloterdijk ließe sich nur vage ideenpsychologisch in Erinnerung an den Raum-Spiritualismus bei Heidegger in den 20er Jahren rechtfertigen. Auch bedeutende Philosophen würden manchmal dem Nichtwahren verfallen (womit wohl Heidegger gemeint ist). Bei Sloterdijk handele es sich Mythologie, nicht um Philosophie, aber auch nicht um Faschismus, denn auch ein Faschist könne ein Philosoph sein (in ZEIT document 2.1999, S.55ff.). Das ist eine argumentative Verschlingung, die einen Bannkreis nicht verlassen will. Wenn es anginge, Heidegger in den Faschisten und den Philosophen zu teilen, was macht, daß dessen Adept Sloterdijk nun nicht politischer Extremist (Faschist) und unphilosophisch-unreflektierter Mythologe wäre?
[2] K.H. Bohrer wies darauf hin, daß auch Habermas daran beteiligt war, die hippiezynische Vernunft (wie sie sich in Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft findet, die Habermas lobte; R.L.) als Innovation zu feiern und daß eine vom Marxismus enttäuschte, aber immer noch religiös erregte Friedens-Linke abscheulichen Körper-Phantasmen (deren eine auch die jüngste, den Uterus mystifizierende „Sphären“-Theorie Sloterdijks ist, R.L.) als Erlösungsutopie huldigte (in ZEIT document 2.1999, S.56).
[3] Habermas, Heidegger, in Farias, Heidegger S.12
[4] Sloterdijk, Regeln S. 54
[5] ebenda S. 29; Hervorhebung von mir, R.L.
[6] Sloterdijk in Thüringische Allgemeine, zitiert nach Information Philosophie Nr. 4/2001
[7] Sloterdijk erklärte im März 2000 in Hamburg, seine Elmauer Rede sei ein „lang gezogener, melancholischer Scherz“ gewesen, setzte aber hinzu, es sei nicht die Aufgabe der Philosophie, der Gentechnik Grenzen zu setzen. Damit sprach er seine Ablehnung des moralischen Themas deutlich aus. In einem verwirrenden Widerspruch sagte er, der Mensch sei geschaffen und gemacht, aber nicht ein „gentechnisch verbesserbares Produkt“ (zitiert nach Der Tagesspiegel vom 24.3.2000). Das heißt, Sloterdijk will gar keine Verbesserung der biologischen Verfassung der lebenden Menschen durch die Gentechnik (er wandte sich gegen eine „Nachfragepanik nach Lebensoptimierungs- und Verlängerungstechniken“), sondern eine Selektion aus den ohnehin entstehenden Menschen.
[8] Wir müssen die Geschichte des Menschen anders erzählen, in Der Tagesspiegel vom 19.9.1999
[9] ebenda S. 37
[10] ebenda S. 48
[11] ebenda. Sloterdijk scheut nicht die begriffliche Nähe zur Verschleierungsparole „sozialistische Menschengemeinschaft“, die die DDR-Führung der eingesperrten Bevölkerung zumutete. Strukturell sind seine Prinzipien deckungsgleich mit dem totalitären Modell, das der spiritistische Kommunist Rudolf Bahro in seiner „Logik der Rettung“ entwarf (siehe Teil 2 in Arbeitsgespräche unter Züchtern in diesem Band).
[12] Heidegger, Brief S.17
[13] Sloterdijk in den Tagesthemen der ARD, zitiert nach T. Assheuer in DIE ZEIT Nr. 40/1999
[14] zitiert nach K.H. Bohrer in ZEIT document 2.1999, S. 56
[15] Sloterdijk, Weltfremdheit (1993), zitiert nach M. Brumlik in ZEIT document 2.1999, S. 44 (auch in Frankfurter Rundschau am 18.9.99)

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