Reinhard Linde
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Autor - Writer |
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Auszug
aus dem Aufsatz:
Geworfenheit auf die todbringende Wetterwarte
Kriegsfixierung, Todeskult und sozialer Autismus im Denken Heideggers
erschienen in dem Buch:
Bin ich, wenn ich nicht denke?
Studien zur Entkräftung, Wirkung und Struktur totalitären Denkens
Centaurus Verlag Herbolzheim 2003
Inhalt
Das Verenden von Millionen
Sozialer Autismus. Tod, Kitsch und Faschismus
Kehren hervorkehrende Vorkehrungen bei Hochwasser
Der Gott in der Discokugel
Die wirkungslose Gnade des zufälligen Überlebens
Hochbezahlte Einforderung sinnloser Opfer. Das himmlische Gespräch.
Das ferne Volk
Der Triumph
Das glühende, eiskalte Herz. Die ungeheure Macht der Negation
Der Sinn des Seins: Gewalt und Tod
Die Geworfenheit in den Tod. Das Gesamterlebnis Krieg
Die Last zu leben
Die erfrierende Liebe. Das Selbstbild gegen die Angst hinter dem Herzleiden,
Die umwerfende Wucht
Das dauernde ohrenbetäubende Läuten
Austritt aus dem Bann
Aus: Das Verenden von Millionen
1949 hielt Heidegger im Club zu Bremen den Vortrag „Die Gefahr”.
Zunächst meditierte er sehr ausführlich und höchst abstrakt über
seine seltsame Dialektik von Lethe (Verborgenheit) und Aletheia (Unverborgenheit).
Daraufhin fand er fürs erste eine eminent verbergende Kraft: eine angebliche
Seinsgeschicklichkeit des „Ge-stells” lasse „alles Anwesende
nur als Bestandstück des Bestandes anwesen”, in dessen Wesen ereigne
sich die „Ver-wahrlosung des Dinges als Ding”. Der daraus erwachsenden
Gefahr folge eine Not. „Man trifft zwar auf vielerlei Nöte und
Drangsale ... aber man achtet gleichwohl nicht auf die Not”,
stellte er fest. „Alle
haben Nöte. Keiner steht in der Not.”
Nun wurde er zum ersten Mal in diesem Vortrag konkret. Um die folgende Erläuterung
seiner Behauptung ertragen zu können, ist die Einnahme einer geradezu
klinisch-therapeutischen Distanz zum Redner nötig. Es wird kein Opfer
der Nationalsozialisten oder ein Angehöriger eines von ihnen Ermordeten
im Saal gewesen sein. Ein solcher Mensch hätte, wahrscheinlich nach einer
Schockphase, zumindest einen Weinkrampf bekommen oder den Redner öffentlich
verflucht. Ein aus den ostdeutschen Gebieten Vertriebener, der Gräu-el
der Roten Armee mit ansehen mußte, hätte sich vielleicht mit Heideggers
Worten zu identifizieren versucht, aber auch er hätte vermutlich im Stillen
registriert, daß hier von einem sinnvollen Bezug auf solche Geschehnisse
keine Rede sein konnte.
Heidegger hob an zu fragen: „Hunderttausende sterben in Massen. Sterben
sie? Sie kommen um. Sie werden umgelegt. Sterben sie? Sie werden Bestandsstücke
eines Bestandes der Fabrikation von Leichen. Sterben sie? Sie werden in Vernichtungslagern
unauffällig liquidiert. Und auch ohne Solches - Millionen verelenden
jetzt in China durch den Hunger in ein Verenden.” Diese Sätze
scheinen, im Zusammenhang mit dem aufgeworfenen Thema einer universalen,
seinsgeschickten
Gefahr gesehen, Anteilnahme auszudrücken. Heideggers Fortsetzung stellt
aber klar, daß es um nichts weniger geht: „Sterben aber heißt,
den Tod in sein Wesen austragen. Sterben können heißt, diesen
Austrag vermögen. Wir vermögen es nur, wenn unser Wesen das Wesen
des Todes mag.”
Man glaubt, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Wovon spricht Heidegger
plötzlich, nachdem er die sprachlich als aktuell vorgestellten Massenmorde
Stalins und der Nationalsozialisten als konkrete und schrecklichste Auswirkung
des Ge-stells angesprochen hat? Jene ersten Sätze scheinen doch die
verheerendste Wirkung der vom Ge-stell ausgehenden Gefahr zu benennen: das
Morden als Resultat
der Behandlung nicht nur der Dinge, sondern auch der Menschen als bloßes
Material technizistischer, sozialtechnischer und machtbesessener Kalküle
bzw. die Menschen als Opfer einer sich verselbständigenden, gegen ihre
Eigenwürde gleichgültigen Technik. Sie scheinen, da Heidegger vorher
doch von der Achtungslosigkeit auf die Not sprach, eben auf diese aufmerksam
zu machen. Jetzt aber verlangt er von den Opfern, daß sie den Tod als
Austrag vermögen sollten, daß sie Sterben können müßten
und das Wesen des Todes mögen sollten. In Sein und Zeit hatte Heidegger übrigens
definitiv erklärt, daß Menschen nicht wie Tiere „verenden” könnten,
weil sie nicht einfach „nur leben”, sondern daseinsmäßig
existieren, indem es ihnen immer um ihr Sein gehe. Darauf nimmt er nun keinen
Bezug mehr. Es ist auch nicht möglich, aus seinen Äußerungen
in Bremen eine Anteilnahme im Sinne der Klage herauszulesen, daß diese
Menschen nicht menschlich und würdig sterben durften. Solches enthielte
die andere Ungeheuerlichkeit, daß ihnen die Mörder doch wenigstens
Pfarrer und Särge zum Sterben hätten bereitstellen sollen.
...
Aus: Das glühende, eiskalte Herz
Die nachträgliche Vermutung Werner Krafts, daß es entgegen dem verbalen
Anschein in Heideggers damaliger Philosophie doch schon ein starkes politisches
Moment gegeben habe, ging nicht fehl. Die Untergründigkeit, aber Massivität
einer durchaus greifbaren politischen Intention Heideggers kann exemplarisch
an seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1928 nachgewiesen
werden, mit der er in Fortsetzung seiner durch Sein und Zeit manifest gewordenen
Richtung seinen Ruf als Denker popularisierbarer Inhalte begründete. Er
eröffnete sie mit einem dezidierten Machtbegehren: die wissenschaftliche
Forschung und Lehre, die ein „In-die-Nähe-kommen zum Wesentlichen
aller Dinge” vollziehe und sich dafür dem Seienden unterwerfe, auf
daß es sich offenbare, „entfaltet sich zum Grunde der Möglichkeit
einer eigenen, obzwar begrenzten Führerschaft im Ganzen der menschlichen
Existenz.” Ein Seiendes, „genannt Mensch”, breche in das „Ganze
des Seienden” so ein, daß es in seinem „was und wie es ist,
aufbricht”. Das ist eine ungeheuerliche Anmaßung und das aufwiegelndes
Versprechen an die jungen Studenten, sie könnten sich durch Brachialität
einen obersten Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Der Rest der Vorlesung
besteht darin, die psychodynamische Technik zu beschreiben, mittels derer die
Selbstertüchtigung zu einem eiskalten, rücksichtslosen Bestimmer über
das „Ganze des Seienden” erfolgreich werden kann. Es muß nachdrücklich
darauf hingewiesen werden, daß Heidegger die Gesellschaft meint, wenn
er verwirrenderweise vom Ganzen des Seienden spricht - der Begriff umfaßt
zwar Menschen und Dinge, aber eben auch jene als „Seiendes”, wie
er anfangs klargestellt hatte. Schon diese Überversachlichung bzw. Verdinglichung
der wichtigsten Wesen im „Ganzen” macht sie zu Objekten von Herrschaft.
Mit einem alle Sprach- und Sachlogik vergewaltigenden Sprung sondergleichen
setzte er vom Seienden, das erforscht werden solle „und sonst - nichts”,
zum Nichts selbst über und erklärte es für „ursprünglicher
als das Nicht und die Verneinung.” Die Stimmungen der Langeweile, der
Freude aus der Gegenwart eines geliebten Menschen, aber insbesondere und vor
allem die der unbestimmten Angst würden je nach ihrer Weise das „Seiende
im Ganzen” enthüllen und vor das Nichts bringen. Sosehr er nun solches
Enthüllen durch die Stimmungen für ein „Grundgeschehen unseres
Da-seins” erklärt, sowenig überschreiten sie dadurch ihren
nur psychischen Gehalt. So würde die „tiefe Langeweile” in
den „Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel” hin-
und herziehen und alles in eine „merkwürdige Gleichgültigkeit” zusammenrücken.
Eine solche Langeweile ist zunächst der eindeutige Ausdruck des schweren
persönlich-psychologischen Problems einer starken sozialen Isolation,
für die der Betroffene jeden Blick verloren hat, das heißt die er
als solche gar nicht mehr wahrnimmt. Wenn die Langeweile dem Generalisten nicht
als zeitbedingtes Phänomen erscheint, dem man diagnostisch auf den Grund
gehen kann (wie es Thomas Mann im Zauberberg tat), sondern als ontologische
Urgegebenheit, dann allerdings ist sie auch der Ausdruck des Umstandes, daß die
ganze soziale Umgebung des Betroffenen bzw. ein ganzes soziales Milieu ebenfalls
aus lauter hochgradig isolierten Menschen besteht. Das Milieu ist in diesem
Falle verschlossen, nicht mehr aufnahmewillig und -fähig für neue
Ideen, belebende Geselligkeit, praktische Anregungen usw. Es kommt also gar
nichts mehr in Sicht, was diese Langeweile aufheben könnte - außer
der äußerst seltene Zufall der unverhofften, nicht unterdrückbaren
Liebesregung zu einem naiv interessierten Menschen.
Heidegger folgt dieser Anregung hier aber ebensowenig wie in seiner späteren
Nietzsche-Vorlesung, in der er, wie bereits zitiert, praktisch den Haß als
Zugang zum Ganzen einer Sache favorisiert, nicht die Liebe zu einem Menschen,
die das auch könne. Zwar zeige sich das „Ganze” außer
im fahlen Licht der Langeweile oder im schwarzen Licht der Angst auch im
hellen Licht der Freude am anwesenden Geliebten. Aber nur das nichtende
Nichts bringe „das
Da-sein allererst vor das Seiende als ein solches.” Liebe kann hier
offensichtlich nichts ausrichten, denn sie „nichtet“ nicht, sie
bejaht. Die totalisierten, alle konkreten Emotionen überspringenden
Stimmungen der Langeweile und der Angst allein sind es, die nach dieser
Logik vor das Nichts bringen können,
nicht die Liebe.
Das Nichts und das Nichten bleiben konstitutionell. Nur „auf dem Grunde
der ursprünglichen Offenbarkeit des Nichts” könne „das
Dasein des Menschen auf Seiendes zu-gehen und eingehen.” Wie das folgende
belegen wird, geht Heidegger hier von der Ontologisierung von individualpsychischen
Befindlichkeiten unmittelbar dazu über, aus dem rein psychischen Akt
des Loslösens von jedem Konkretum die Notwendigkeit und Möglichkeit
von Haltungen gegenüber dem Ganzen abzuleiten. Es geht nicht um die
Erkenntnis oder eine andere Art von Aneignung der Dinge und Menschen, sondern
um ein Verhalten,
das allein auf dem stimmungsmäßigen, sich selbst isolierenden
Psychismus der faden Gleichgültigkeit und der Angst (diese Stimmungstendenzen
sind psychologisch tatsächlich komplementär) beruht und alle anderen
Komponenten zur Haltungsfindung wie die rationalen, emotionalen, moralischen
und ästhetischen
ausschließt. Ziel ist für Heidegger das „Hinaussein über
das Seiende”, die Transzendenz. Damit ist Transzendentalität im
Sinne Kants als die Annäherung an Prinzipien, durch die das Konkrete
besser erkannt werden kann, durch das Ziel ersetzt worden, beim Wesen des
Ganzen anzulangen
und über das Einzelne für immer hinweg zu kommen.
Wenn sich aber eine durch Angst tief verdüsterte Gemütsverfassung
auf die Empfindung von allem Gegebenen legt, was wird dann an Seiendem und
am Seienden offenbar? Es erscheint bedrohlich, hinfällig, sterbend, aufgelöst,
beziehungslos. Totalisierte Angst führt in schwere Depression, Selbstaufgabe
und Motivationslosigkeit. Individualpsychologisch kommt der Wunsch auf, alles
möge sich mit einem Mal verändern und erneuern. Auf der sozialpsychologischen,
das ist hier die sozial-autistische Ebene wohnt diesem individuellen Impuls
jedoch das überaus aggressive Moment inne, das Wirkliche tatsächlich
und sofort mit politisch-gewaltsamen Mitteln vollständig zu nichten und
neu aufzubauen - eben weil der Betreffende sich politisch nicht allein fühlt,
seine eigene extreme Unverbundenheit in derjenigen seiner Gesinnungsgenossen
wiedererkennt und die gedankliche Fassung seiner explosiven Demotivation (ein
friedliches, schöpferisches und sozial verbundenes Leben zu führen)
programmatisch auf sie und neue Teilnehmer am Revolutionsprojekt hin entwirft.
Heidegger will also die extreme Langeweile und die grenzenlose Angst, die er
offenbar sehr gut kennt, in seinen Zuhörern evozieren, um auch in ihnen
den Umschlag dieser Verfassung in die grenzenlose Aggression herbeizuführen.
Der Atem der ursprünglichen Angst „zittert ständig durch das
Dasein: am wenigsten durch das `ängstliche` und unvernehmlich für
das `ja, Ja` und `Nein, Nein` des betriebsamen; am ehesten durch das verhaltene;
am sichersten durch das im Grund verwegene.”
Die eigentliche, totale, das Nichts nicht fürchtende Angst ist also der
verwegene, taten-durstige Mut, das Ganze so zu nichten, wie es das Nichts vermag.
Das verwegene Dasein „geschieht nur aus dem, wofür es sich verschwendet,
um so die letzte Größe des Daseins zu bewahren.” Wieder stoßen
wir auf den schon bekannten Topos Heideggers, daß sich der Einzelne als
Opfer für das Volksganze verschwenden soll. Er gab zwar die Identität
von „Dasein“ und verganzheitlichendem Volks- bzw. Kollektivgeist
noch immer nicht unmißverständlich preis, aber er setzte wie schon
in Sein und Zeit unverhohlen auf ein assoziatives Verständnis und auf
die Erzeugung einer revolutionären Energie: „Abgründiger als
die bloße Angemessenheit der denkenden Verneinung ist die Härte
des Entgegenhandelns und die Schärfe des Verabscheuens. Verantwortlicher
ist der Schmerz des Versagens und die Schonungslosigkeit des Verbietens. Lastender
ist die Herbe des Entbehrens.” In dieser Bestimmung der zu erwartenden
Machtfülle des angstergriffenen Verwegenen gibt es nicht einmal eine Spur
von Helligkeit und Konstruktivität. Sie enthält allein das Versprechen, über
die Psychotechnik der Eskalation der Angst eine ungeheure, uneinholbare soziale
Negationspotenz zu gewinnen. Diese Möglichkeiten des „nichtenden“ Verhaltens
seien Kräfte, in denen das Dasein seine Geworfenheit trage, wenngleich
nicht meistere. Das klingt bescheiden, ist aber alles andere als das. Die Geworfenheit
besteht in dem, was das Sein selbst dem Einzelwesen bzw. dem (kollektivseelischen)
Dasein bestimmt zu sein. Wenn-gleich also keine Herrschaft (Meisterung) über
den Sinn der konkreten Geworfenheit möglich sei, so doch ein Mittragen.
Es besteht die Aussicht, auf die Höhe des tragenden Seins zu kom-men -
und die Geworfenheit all derer „mitzutragen“, die nicht verwegen
sind und im gewöhnlichen Sinne ängstlich bleiben.
Die Folge Härte, Entgegenhandeln, Schärfe, Verabscheuen, Schmerz,
Versagen, Schonungslosigkeit, Verbieten, Last, Herbe, Entbehren, nichtendes
Verhalten sei wiederholt, um gleichsam fühlbar werden zu lassen, daß es
auf abstraktbegrifflicher Ebene keine schwärzere, hassendere, erbarmungslosere
Beziehung zur Zeit und ihren Menschen geben konnte. Es sind die Verhaltenscharaktere
eines fanatischen, selbstergriffenen Nationalsozialisten, der seine welthistorische
Aufgabe darin sieht, alles Behagen, alle Freizügigkeit, alle Fantasie
zu unterdrücken und sich innerlich für eine ununterbrochene tötungspolizeiliche
Aufgabe zu rüsten. Die Grundkondition der nationalen Revolutionäre
soll in einer maximalen sozialen Kälte bestehen. Sie dürfen nicht
nach links und rechts sehen, sich von keiner Kritik und rationalem Einwand
irritieren lassen, keine Bitte nach Nichteingliederung in den Kampfverband
anhören, keinen Gegner schonen. Nur von einer derart elenden, alles
Menschliche an sich selbst ausrottenden Gemütsverfassung her war es
der Nazi-Funktionärsschaft
und ihren technischen Befehlsvollstreckern möglich, ein so elendes Töten
von Massen völlig wehrloser Menschen zu wollen und zu realisieren. Es
sind die Charaktere der Selbstverworfenheit, der unüberbietbaren Niedrigkeit
und Niederträchtigkeit, die Heidegger als praktisches metaphysisches
Verhalten ausgab.
...
Aus: Die Last zu leben
Wir sind in einem Zirkel gelandet, aus dem es kein Entrinnen gibt. Es gibt
nach Heidegger keinerlei Möglichkeit, das Geworfensein als eine unfreiwillig
gelebte, aber unumgängliche Bahn oder Lebensetappe hinter sich zu lassen
oder durch freiwillige Handlungen zu relativieren. Die „Faktizität
der Überantwortung”, zu sein zu haben bedeutet nur, zu
akzeptieren, daß man da sein muß, scheinbar wie auch immer man
geartet und verfaßt
ist und wo auch immer man hingestellt ist. Und man muß da bleiben,
scheinbar wohin auch immer es einen verschlägt oder was auf einen zukommen
kann. Düsterer, latent verneinender kann eine Haltung zum Leben nicht
sein. Der Einzelne kann nur wissen, daß es einen höheren Sinn
seines Daseins gibt. Er muß, rücksichtslos gegen seine Gefühle
von seinem Leben, nach der vorgegebenen Bestimmung leben und findet Sinn
nur, indem er
glaubt oder weiß, daß da irgendein Sinn ist.
Eine Notwendigkeit des eigenen Daseins als „zu sein zu haben” zu
bestimmen, ist einerseits nur verständlich, wenn jemand das eigene
Leben als überaus widrig und, emotional gesehen, als äußerst
unlebbar empfindet. Andererseits liefert er sich konkreten Bestim-mungen
seines Daseinszweckes
aus, die nicht von ihm selbst kommen, so als würde er mit einem potentiellen
Bestimmer verschmelzen. So zeigt sich die ambitiöse ontologische Bestimmung
einerseits als psychodynamische Durchhalteparole, die sich unmittelbar in
eine existenzielle - das ist hier eine sich physisch ausliefernde - Empfänglichkeit
für Anordnun-gen von seiten solcher Instanzen wendet, die in der Art „Sie
haben zu ...” das Einzelleben bestimmen. Zu sein zu haben ist ein militärbürokratischer
Terminus für Situationen, in denen die Einzelnen alles andere als dort
sein möchten, wo sie sind.
Daß Heidegger hier wie auch in allen anderen Zusammenhängen, in
die er das „Daß” stellte, so programmatisch über alle
gelebten und in den Stimmungen erlittenen Inhalte (ihr Was) hinwegging, heißt
mitnichten, daß sie nicht von Belang wären. Sie können es
nicht sein, weil es kein Daß gibt, das nicht zugleich ein konkretes
Was wäre.
Heidegger könnte eine ganze Bibliothek schreiben und dennoch nicht belegen,
daß das Daß einen höheren ontologischen Rang als das Was
hat. Der reine Begriff des Seins, die Möglichkeit, von allem Bestimmten
zu abstrahieren, ist ebenso imaginierbar wie ein fliegendes Pferd, doch ebensowenig
anwendbar, wie dieses realisierbar ist. Es gibt allerdings reale Formen,
das
Wie- und Wassein eines Einzelnen vollständig zu übergehen und ihn
seinem psychischen und physischen Schicksal zu überlassen (bzw. ihm
eines zuzuteilen). Dann kann dieser bloß noch empfinden, „`wie
einem ist`”, und er kann damit nur noch verbinden, „daß” er
ist.
Einer kann über das eigene Wiesein, Wassein und Wollen nichts mehr wissen,
wenn seine Eltern gegen seine Neigungen die Entscheidung über Berufswahl
und Heiratspartner treffen, wenn er grundlos entlassen, vertrieben oder eingekerkert
wird. Die drakonischste Form, jemanden als Sache zu behandeln, ihm die persönliche
Würde der mitbestimmenden Eigentümlichkeit zu nehmen, ist der militärische
Befehl zu bloßen Abrichtungszwecken bzw. im Rahmen rein privat-diktatorischer
Ziele. Der Einwand der Heidegger-Anhänger, Heidegger fasse nicht derartig
konkrete Lebensereignisse generalisierend zusammen, sondern formuliere ein
existenzielles Apriori vor aller Realität, beraubt sich mit diesem Ranganspruch
seiner Funktion für die eigentliche Pointe: wenn Aprioris nicht im Konkreten
wiederkehren, es erschließen, durchsichtig machen, ohne sie als Konkreta
gleich wieder aufzulösen, dann sind sie wertlos.
Die Frage, wer das physische Einzelwesen in die Welt „wirft”,
behandelte Heidegger lange wie ein Thema, das der Rede nicht wert sei. Erst
im Brief über
den ´Humanismus´ offenbarte er, daß es für ihn
doch ein rein geistiges Transzendens gab, das wirft - das Sein. Das „geistige“ Dasein
kommt also aus einem - schlechthin esoterisch-unerforschlichen - Jen-seits
in den (adoleszierenden) Menschen: der Mensch sei „in der Geworfenheit.
Das sagt: der Mensch ist als der ek-sistierende Gegenwurf des Seins.“ DHeideHeHeidegggereer
Ent-wurf sei „wesenhaft ein geworfener. Das Werfende im Entwerfen ist
nicht der Mensch, sondern das Sein selbst, das den Menschen in die Ek-sistenz
des Da-seins als sein Wesen schickt.” Diese Herkunft und die damit
verbundene totale Selbstbezogenheit von Dasein ist nur deshalb bisher nicht
bemerkt worden,
weil Heidegger sie durch die stärkere Betonung der Abhängigkeit
des Seins vom Dasein verdeckte, und weil meist hartnäckig nicht zur
Kenntnis genommen wird, daß „Dasein“ eben eine rein geistig-psychische
Charakteristik hat. Das Sein könne nur wirken und überhaupt nur
sein, sofern es Seinsverständnis gibt. Das bedeutet, daß das Dasein
erst vom Sein in sein Dasein geworfen werden kann, wenn es ein Verständnis
von seinem (puren) Sein des Da gewonnen und dieses gleichsam ermächtigt
hat, es zu werfen.
Die Zirkelhaftigkeit, die Heidegger so aggressiv gegen die angeblich ver-sagende
konventionelle Logik wendete und methodisch etablieren wollte, zeigt sich
hier als die vorsätzliche Selbstbezüglichkeit eines psychischen Momentes
(des „Daseins“), das sich allein an einem angeblichen transzendenten
Allgemeinen (dem „Sein“, dem „Daß“) bilden will
und soll, während es alle Bezüge zum Körperlichen (dem „Seienden“,
dem „Was“) abstreift. Indem sich Heidegger auf konkrete Befindlichkeiten nicht hören, sondern sie als bloß gegebene, uneigentliche ausweisen
will, verstrickt er sich in eine sozial-autistische Verschlingung. Denn er
bestimmt etwas als ein elementar Allgemeines, was doch so offensichtlich sein
eigenstes Problem war. Er projizierte etwas, was er an sich selbst nicht wirklich
wahrhaben wollte, auf das Leben der anderen. In Sein und Zeit schrieb er, daß die „Verstimmung“ den „Lastcharakter
des Seins des Da“ offenbar mache. Das ist psychologisch insofern nicht
ganz zutreffend, als Verstimmungen lediglich bestimmte Belastungen oder Überlastungen
reflektieren. Wenn einer es als lastend empfindet, überhaupt da zu sein,
dann handelt es sich schon um eine nicht mehr gewöhnliche, bald vorübergehende,
sondern depressive Verstimmung, die zu ihrer adäquaten Benennung jene
Prädikation verlangt.
Gegenüber diesem „überhaupt da zu sein” ist allerdings
eine Einschränkung vorzunehmen, denn Heideggers „Sein des Da” betrifft,
wie bereits anklang, allein das schon irgendwie sozialisierte oder sich der
Sozialität anpassende Einzelwesen. Das heißt, es wäre nach
Heidegger also prinzipiell eine schwere Last, in der Gesellschaft leben,
sich sozial verhalten und im sozialen Rahmen für sich
sorgen zu müssen
- eine Anforderung, der Kinder, Kranke und Greise enthoben sind und der sie
sich jederzeit wieder entziehen können, wenn ihre Kräfte für
dergleichen Aktivitäten nicht ausreichen. Die Unmöglichkeit solchen
Enthoben-werdens und Sich-entziehen-Könnens, weil Kindlichkeit, Krankheit
oder Hinfälligkeit nicht geltend gemacht werden können, macht dann
das mitunter auch existenzielle Problem. Das aktuelle Leben schrumpft um
so mehr auf den bitter empfundenen Zwang zur bloßen Selbsterhaltung,
je mehr ein nicht kompensierter Verlust an mentalen und physischen Kräften
zur Behauptung einer bestimmten Position innerhalb des sozialen Gefüges
empfunden wird.
...