Reinhard Linde

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Auswahl Totalitarismus
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Auszug aus dem Aufsatz:
Geworfenheit auf die todbringende Wetterwarte
Kriegsfixierung, Todeskult und sozialer Autismus im Denken Heideggers
erschienen in dem Buch:
Bin ich, wenn ich nicht denke?
Studien zur Entkräftung, Wirkung und Struktur totalitären Denkens
Centaurus Verlag Herbolzheim 2003

 

Inhalt
Das Verenden von Millionen
Sozialer Autismus. Tod, Kitsch und Faschismus
Kehren hervorkehrende Vorkehrungen bei Hochwasser
Der Gott in der Discokugel
Die wirkungslose Gnade des zufälligen Überlebens
Hochbezahlte Einforderung sinnloser Opfer. Das himmlische Gespräch. Das ferne Volk
Der Triumph
Das glühende, eiskalte Herz. Die ungeheure Macht der Negation
Der Sinn des Seins: Gewalt und Tod
Die Geworfenheit in den Tod. Das Gesamterlebnis Krieg
Die Last zu leben
Die erfrierende Liebe. Das Selbstbild gegen die Angst hinter dem Herzleiden, Die umwerfende Wucht
Das dauernde ohrenbetäubende Läuten
Austritt aus dem Bann

Aus: Das Verenden von Millionen

1949 hielt Heidegger im Club zu Bremen den Vortrag „Die Gefahr”. Zunächst meditierte er sehr ausführlich und höchst abstrakt über seine seltsame Dialektik von Lethe (Verborgenheit) und Aletheia (Unverborgenheit). Daraufhin fand er fürs erste eine eminent verbergende Kraft: eine angebliche Seinsgeschicklichkeit des „Ge-stells” lasse „alles Anwesende nur als Bestandstück des Bestandes anwesen”, in dessen Wesen ereigne sich die „Ver-wahrlosung des Dinges als Ding”. Der daraus erwachsenden Gefahr folge eine Not. „Man trifft zwar auf vielerlei Nöte und Drangsale ... aber man achtet gleichwohl nicht auf die Not”, stellte er fest. „Alle haben Nöte. Keiner steht in der Not.”
Nun wurde er zum ersten Mal in diesem Vortrag konkret. Um die folgende Erläuterung seiner Behauptung ertragen zu können, ist die Einnahme einer geradezu klinisch-therapeutischen Distanz zum Redner nötig. Es wird kein Opfer der Nationalsozialisten oder ein Angehöriger eines von ihnen Ermordeten im Saal gewesen sein. Ein solcher Mensch hätte, wahrscheinlich nach einer Schockphase, zumindest einen Weinkrampf bekommen oder den Redner öffentlich verflucht. Ein aus den ostdeutschen Gebieten Vertriebener, der Gräu-el der Roten Armee mit ansehen mußte, hätte sich vielleicht mit Heideggers Worten zu identifizieren versucht, aber auch er hätte vermutlich im Stillen registriert, daß hier von einem sinnvollen Bezug auf solche Geschehnisse keine Rede sein konnte.
Heidegger hob an zu fragen: „Hunderttausende sterben in Massen. Sterben sie? Sie kommen um. Sie werden umgelegt. Sterben sie? Sie werden Bestandsstücke eines Bestandes der Fabrikation von Leichen. Sterben sie? Sie werden in Vernichtungslagern unauffällig liquidiert. Und auch ohne Solches - Millionen verelenden jetzt in China durch den Hunger in ein Verenden.” Diese Sätze scheinen, im Zusammenhang mit dem aufgeworfenen Thema einer universalen, seinsgeschickten Gefahr gesehen, Anteilnahme auszudrücken. Heideggers Fortsetzung stellt aber klar, daß es um nichts weniger geht: „Sterben aber heißt, den Tod in sein Wesen austragen. Sterben können heißt, diesen Austrag vermögen. Wir vermögen es nur, wenn unser Wesen das Wesen des Todes mag.”
Man glaubt, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Wovon spricht Heidegger plötzlich, nachdem er die sprachlich als aktuell vorgestellten Massenmorde Stalins und der Nationalsozialisten als konkrete und schrecklichste Auswirkung des Ge-stells angesprochen hat? Jene ersten Sätze scheinen doch die verheerendste Wirkung der vom Ge-stell ausgehenden Gefahr zu benennen: das Morden als Resultat der Behandlung nicht nur der Dinge, sondern auch der Menschen als bloßes Material technizistischer, sozialtechnischer und machtbesessener Kalküle bzw. die Menschen als Opfer einer sich verselbständigenden, gegen ihre Eigenwürde gleichgültigen Technik. Sie scheinen, da Heidegger vorher doch von der Achtungslosigkeit auf die Not sprach, eben auf diese aufmerksam zu machen. Jetzt aber verlangt er von den Opfern, daß sie den Tod als Austrag vermögen sollten, daß sie Sterben können müßten und das Wesen des Todes mögen sollten. In Sein und Zeit hatte Heidegger übrigens definitiv erklärt, daß Menschen nicht wie Tiere „verenden” könnten, weil sie nicht einfach „nur leben”, sondern daseinsmäßig existieren, indem es ihnen immer um ihr Sein gehe. Darauf nimmt er nun keinen Bezug mehr. Es ist auch nicht möglich, aus seinen Äußerungen in Bremen eine Anteilnahme im Sinne der Klage herauszulesen, daß diese Menschen nicht menschlich und würdig sterben durften. Solches enthielte die andere Ungeheuerlichkeit, daß ihnen die Mörder doch wenigstens Pfarrer und Särge zum Sterben hätten bereitstellen sollen.
...

Aus: Das glühende, eiskalte Herz

Die nachträgliche Vermutung Werner Krafts, daß es entgegen dem verbalen Anschein in Heideggers damaliger Philosophie doch schon ein starkes politisches Moment gegeben habe, ging nicht fehl. Die Untergründigkeit, aber Massivität einer durchaus greifbaren politischen Intention Heideggers kann exemplarisch an seiner Freiburger Antrittsvorlesung Was ist Metaphysik? von 1928 nachgewiesen werden, mit der er in Fortsetzung seiner durch Sein und Zeit manifest gewordenen Richtung seinen Ruf als Denker popularisierbarer Inhalte begründete. Er eröffnete sie mit einem dezidierten Machtbegehren: die wissenschaftliche Forschung und Lehre, die ein „In-die-Nähe-kommen zum Wesentlichen aller Dinge” vollziehe und sich dafür dem Seienden unterwerfe, auf daß es sich offenbare, „entfaltet sich zum Grunde der Möglichkeit einer eigenen, obzwar begrenzten Führerschaft im Ganzen der menschlichen Existenz.” Ein Seiendes, „genannt Mensch”, breche in das „Ganze des Seienden” so ein, daß es in seinem „was und wie es ist, aufbricht”. Das ist eine ungeheuerliche Anmaßung und das aufwiegelndes Versprechen an die jungen Studenten, sie könnten sich durch Brachialität einen obersten Platz in der Gesellschaft erkämpfen. Der Rest der Vorlesung besteht darin, die psychodynamische Technik zu beschreiben, mittels derer die Selbstertüchtigung zu einem eiskalten, rücksichtslosen Bestimmer über das „Ganze des Seienden” erfolgreich werden kann. Es muß nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß Heidegger die Gesellschaft meint, wenn er verwirrenderweise vom Ganzen des Seienden spricht - der Begriff umfaßt zwar Menschen und Dinge, aber eben auch jene als „Seiendes”, wie er anfangs klargestellt hatte. Schon diese Überversachlichung bzw. Verdinglichung der wichtigsten Wesen im „Ganzen” macht sie zu Objekten von Herrschaft.
Mit einem alle Sprach- und Sachlogik vergewaltigenden Sprung sondergleichen setzte er vom Seienden, das erforscht werden solle „und sonst - nichts”, zum Nichts selbst über und erklärte es für „ursprünglicher als das Nicht und die Verneinung.” Die Stimmungen der Langeweile, der Freude aus der Gegenwart eines geliebten Menschen, aber insbesondere und vor allem die der unbestimmten Angst würden je nach ihrer Weise das „Seiende im Ganzen” enthüllen und vor das Nichts bringen. Sosehr er nun solches Enthüllen durch die Stimmungen für ein „Grundgeschehen unseres Da-seins” erklärt, sowenig überschreiten sie dadurch ihren nur psychischen Gehalt. So würde die „tiefe Langeweile” in den „Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel” hin- und herziehen und alles in eine „merkwürdige Gleichgültigkeit” zusammenrücken. Eine solche Langeweile ist zunächst der eindeutige Ausdruck des schweren persönlich-psychologischen Problems einer starken sozialen Isolation, für die der Betroffene jeden Blick verloren hat, das heißt die er als solche gar nicht mehr wahrnimmt. Wenn die Langeweile dem Generalisten nicht als zeitbedingtes Phänomen erscheint, dem man diagnostisch auf den Grund gehen kann (wie es Thomas Mann im Zauberberg tat), sondern als ontologische Urgegebenheit, dann allerdings ist sie auch der Ausdruck des Umstandes, daß die ganze soziale Umgebung des Betroffenen bzw. ein ganzes soziales Milieu ebenfalls aus lauter hochgradig isolierten Menschen besteht. Das Milieu ist in diesem Falle verschlossen, nicht mehr aufnahmewillig und -fähig für neue Ideen, belebende Geselligkeit, praktische Anregungen usw. Es kommt also gar nichts mehr in Sicht, was diese Langeweile aufheben könnte - außer der äußerst seltene Zufall der unverhofften, nicht unterdrückbaren Liebesregung zu einem naiv interessierten Menschen.
Heidegger folgt dieser Anregung hier aber ebensowenig wie in seiner späteren Nietzsche-Vorlesung, in der er, wie bereits zitiert, praktisch den Haß als Zugang zum Ganzen einer Sache favorisiert, nicht die Liebe zu einem Menschen, die das auch könne. Zwar zeige sich das „Ganze” außer im fahlen Licht der Langeweile oder im schwarzen Licht der Angst auch im hellen Licht der Freude am anwesenden Geliebten. Aber nur das nichtende Nichts bringe „das Da-sein allererst vor das Seiende als ein solches.” Liebe kann hier offensichtlich nichts ausrichten, denn sie „nichtet“ nicht, sie bejaht. Die totalisierten, alle konkreten Emotionen überspringenden Stimmungen der Langeweile und der Angst allein sind es, die nach dieser Logik vor das Nichts bringen können, nicht die Liebe.
Das Nichts und das Nichten bleiben konstitutionell. Nur „auf dem Grunde der ursprünglichen Offenbarkeit des Nichts” könne „das Dasein des Menschen auf Seiendes zu-gehen und eingehen.” Wie das folgende belegen wird, geht Heidegger hier von der Ontologisierung von individualpsychischen Befindlichkeiten unmittelbar dazu über, aus dem rein psychischen Akt des Loslösens von jedem Konkretum die Notwendigkeit und Möglichkeit von Haltungen gegenüber dem Ganzen abzuleiten. Es geht nicht um die Erkenntnis oder eine andere Art von Aneignung der Dinge und Menschen, sondern um ein Verhalten, das allein auf dem stimmungsmäßigen, sich selbst isolierenden Psychismus der faden Gleichgültigkeit und der Angst (diese Stimmungstendenzen sind psychologisch tatsächlich komplementär) beruht und alle anderen Komponenten zur Haltungsfindung wie die rationalen, emotionalen, moralischen und ästhetischen ausschließt. Ziel ist für Heidegger das „Hinaussein über das Seiende”, die Transzendenz. Damit ist Transzendentalität im Sinne Kants als die Annäherung an Prinzipien, durch die das Konkrete besser erkannt werden kann, durch das Ziel ersetzt worden, beim Wesen des Ganzen anzulangen und über das Einzelne für immer hinweg zu kommen.
Wenn sich aber eine durch Angst tief verdüsterte Gemütsverfassung auf die Empfindung von allem Gegebenen legt, was wird dann an Seiendem und am Seienden offenbar? Es erscheint bedrohlich, hinfällig, sterbend, aufgelöst, beziehungslos. Totalisierte Angst führt in schwere Depression, Selbstaufgabe und Motivationslosigkeit. Individualpsychologisch kommt der Wunsch auf, alles möge sich mit einem Mal verändern und erneuern. Auf der sozialpsychologischen, das ist hier die sozial-autistische Ebene wohnt diesem individuellen Impuls jedoch das überaus aggressive Moment inne, das Wirkliche tatsächlich und sofort mit politisch-gewaltsamen Mitteln vollständig zu nichten und neu aufzubauen - eben weil der Betreffende sich politisch nicht allein fühlt, seine eigene extreme Unverbundenheit in derjenigen seiner Gesinnungsgenossen wiedererkennt und die gedankliche Fassung seiner explosiven Demotivation (ein friedliches, schöpferisches und sozial verbundenes Leben zu führen) programmatisch auf sie und neue Teilnehmer am Revolutionsprojekt hin entwirft. Heidegger will also die extreme Langeweile und die grenzenlose Angst, die er offenbar sehr gut kennt, in seinen Zuhörern evozieren, um auch in ihnen den Umschlag dieser Verfassung in die grenzenlose Aggression herbeizuführen. Der Atem der ursprünglichen Angst „zittert ständig durch das Dasein: am wenigsten durch das `ängstliche` und unvernehmlich für das `ja, Ja` und `Nein, Nein` des betriebsamen; am ehesten durch das verhaltene; am sichersten durch das im Grund verwegene.
Die eigentliche, totale, das Nichts nicht fürchtende Angst ist also der verwegene, taten-durstige Mut, das Ganze so zu nichten, wie es das Nichts vermag. Das verwegene Dasein „geschieht nur aus dem, wofür es sich verschwendet, um so die letzte Größe des Daseins zu bewahren.” Wieder stoßen wir auf den schon bekannten Topos Heideggers, daß sich der Einzelne als Opfer für das Volksganze verschwenden soll. Er gab zwar die Identität von „Dasein“ und verganzheitlichendem Volks- bzw. Kollektivgeist noch immer nicht unmißverständlich preis, aber er setzte wie schon in Sein und Zeit unverhohlen auf ein assoziatives Verständnis und auf die Erzeugung einer revolutionären Energie: „Abgründiger als die bloße Angemessenheit der denkenden Verneinung ist die Härte des Entgegenhandelns und die Schärfe des Verabscheuens. Verantwortlicher ist der Schmerz des Versagens und die Schonungslosigkeit des Verbietens. Lastender ist die Herbe des Entbehrens.” In dieser Bestimmung der zu erwartenden Machtfülle des angstergriffenen Verwegenen gibt es nicht einmal eine Spur von Helligkeit und Konstruktivität. Sie enthält allein das Versprechen, über die Psychotechnik der Eskalation der Angst eine ungeheure, uneinholbare soziale Negationspotenz zu gewinnen. Diese Möglichkeiten des „nichtenden“ Verhaltens seien Kräfte, in denen das Dasein seine Geworfenheit trage, wenngleich nicht meistere. Das klingt bescheiden, ist aber alles andere als das. Die Geworfenheit besteht in dem, was das Sein selbst dem Einzelwesen bzw. dem (kollektivseelischen) Dasein bestimmt zu sein. Wenn-gleich also keine Herrschaft (Meisterung) über den Sinn der konkreten Geworfenheit möglich sei, so doch ein Mittragen. Es besteht die Aussicht, auf die Höhe des tragenden Seins zu kom-men - und die Geworfenheit all derer „mitzutragen“, die nicht verwegen sind und im gewöhnlichen Sinne ängstlich bleiben.
Die Folge Härte, Entgegenhandeln, Schärfe, Verabscheuen, Schmerz, Versagen, Schonungslosigkeit, Verbieten, Last, Herbe, Entbehren, nichtendes Verhalten sei wiederholt, um gleichsam fühlbar werden zu lassen, daß es auf abstraktbegrifflicher Ebene keine schwärzere, hassendere, erbarmungslosere Beziehung zur Zeit und ihren Menschen geben konnte. Es sind die Verhaltenscharaktere eines fanatischen, selbstergriffenen Nationalsozialisten, der seine welthistorische Aufgabe darin sieht, alles Behagen, alle Freizügigkeit, alle Fantasie zu unterdrücken und sich innerlich für eine ununterbrochene tötungspolizeiliche Aufgabe zu rüsten. Die Grundkondition der nationalen Revolutionäre soll in einer maximalen sozialen Kälte bestehen. Sie dürfen nicht nach links und rechts sehen, sich von keiner Kritik und rationalem Einwand irritieren lassen, keine Bitte nach Nichteingliederung in den Kampfverband anhören, keinen Gegner schonen. Nur von einer derart elenden, alles Menschliche an sich selbst ausrottenden Gemütsverfassung her war es der Nazi-Funktionärsschaft und ihren technischen Befehlsvollstreckern möglich, ein so elendes Töten von Massen völlig wehrloser Menschen zu wollen und zu realisieren. Es sind die Charaktere der Selbstverworfenheit, der unüberbietbaren Niedrigkeit und Niederträchtigkeit, die Heidegger als praktisches metaphysisches Verhalten ausgab.
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Aus: Die Last zu leben

Wir sind in einem Zirkel gelandet, aus dem es kein Entrinnen gibt. Es gibt nach Heidegger keinerlei Möglichkeit, das Geworfensein als eine unfreiwillig gelebte, aber unumgängliche Bahn oder Lebensetappe hinter sich zu lassen oder durch freiwillige Handlungen zu relativieren. Die „Faktizität der Überantwortung”, zu sein zu haben bedeutet nur, zu akzeptieren, daß man da sein muß, scheinbar wie auch immer man geartet und verfaßt ist und wo auch immer man hingestellt ist. Und man muß da bleiben, scheinbar wohin auch immer es einen verschlägt oder was auf einen zukommen kann. Düsterer, latent verneinender kann eine Haltung zum Leben nicht sein. Der Einzelne kann nur wissen, daß es einen höheren Sinn seines Daseins gibt. Er muß, rücksichtslos gegen seine Gefühle von seinem Leben, nach der vorgegebenen Bestimmung leben und findet Sinn nur, indem er glaubt oder weiß, daß da irgendein Sinn ist.
Eine Notwendigkeit des eigenen Daseins als „zu sein zu haben” zu bestimmen, ist einerseits nur verständlich, wenn jemand das eigene Leben als überaus widrig und, emotional gesehen, als äußerst unlebbar empfindet. Andererseits liefert er sich konkreten Bestim-mungen seines Daseinszweckes aus, die nicht von ihm selbst kommen, so als würde er mit einem potentiellen Bestimmer verschmelzen. So zeigt sich die ambitiöse ontologische Bestimmung einerseits als psychodynamische Durchhalteparole, die sich unmittelbar in eine existenzielle - das ist hier eine sich physisch ausliefernde - Empfänglichkeit für Anordnun-gen von seiten solcher Instanzen wendet, die in der Art „Sie haben zu ...” das Einzelleben bestimmen. Zu sein zu haben ist ein militärbürokratischer Terminus für Situationen, in denen die Einzelnen alles andere als dort sein möchten, wo sie sind.
Daß Heidegger hier wie auch in allen anderen Zusammenhängen, in die er das „Daß” stellte, so programmatisch über alle gelebten und in den Stimmungen erlittenen Inhalte (ihr Was) hinwegging, heißt mitnichten, daß sie nicht von Belang wären. Sie können es nicht sein, weil es kein Daß gibt, das nicht zugleich ein konkretes Was wäre. Heidegger könnte eine ganze Bibliothek schreiben und dennoch nicht belegen, daß das Daß einen höheren ontologischen Rang als das Was hat. Der reine Begriff des Seins, die Möglichkeit, von allem Bestimmten zu abstrahieren, ist ebenso imaginierbar wie ein fliegendes Pferd, doch ebensowenig anwendbar, wie dieses realisierbar ist. Es gibt allerdings reale Formen, das Wie- und Wassein eines Einzelnen vollständig zu übergehen und ihn seinem psychischen und physischen Schicksal zu überlassen (bzw. ihm eines zuzuteilen). Dann kann dieser bloß noch empfinden, „`wie einem ist`”, und er kann damit nur noch verbinden, „daß” er ist.
Einer kann über das eigene Wiesein, Wassein und Wollen nichts mehr wissen, wenn seine Eltern gegen seine Neigungen die Entscheidung über Berufswahl und Heiratspartner treffen, wenn er grundlos entlassen, vertrieben oder eingekerkert wird. Die drakonischste Form, jemanden als Sache zu behandeln, ihm die persönliche Würde der mitbestimmenden Eigentümlichkeit zu nehmen, ist der militärische Befehl zu bloßen Abrichtungszwecken bzw. im Rahmen rein privat-diktatorischer Ziele. Der Einwand der Heidegger-Anhänger, Heidegger fasse nicht derartig konkrete Lebensereignisse generalisierend zusammen, sondern formuliere ein existenzielles Apriori vor aller Realität, beraubt sich mit diesem Ranganspruch seiner Funktion für die eigentliche Pointe: wenn Aprioris nicht im Konkreten wiederkehren, es erschließen, durchsichtig machen, ohne sie als Konkreta gleich wieder aufzulösen, dann sind sie wertlos.
Die Frage, wer das physische Einzelwesen in die Welt „wirft”, behandelte Heidegger lange wie ein Thema, das der Rede nicht wert sei. Erst im Brief über den ´Humanismus´ offenbarte er, daß es für ihn doch ein rein geistiges Transzendens gab, das wirft - das Sein. Das „geistige“ Dasein kommt also aus einem - schlechthin esoterisch-unerforschlichen - Jen-seits in den (adoleszierenden) Menschen: der Mensch sei „in der Geworfenheit. Das sagt: der Mensch ist als der ek-sistierende Gegenwurf des Seins.“ DHeideHeHeidegggereer Ent-wurf sei „wesenhaft ein geworfener. Das Werfende im Entwerfen ist nicht der Mensch, sondern das Sein selbst, das den Menschen in die Ek-sistenz des Da-seins als sein Wesen schickt.” Diese Herkunft und die damit verbundene totale Selbstbezogenheit von Dasein ist nur deshalb bisher nicht bemerkt worden, weil Heidegger sie durch die stärkere Betonung der Abhängigkeit des Seins vom Dasein verdeckte, und weil meist hartnäckig nicht zur Kenntnis genommen wird, daß „Dasein“ eben eine rein geistig-psychische Charakteristik hat. Das Sein könne nur wirken und überhaupt nur sein, sofern es Seinsverständnis gibt. Das bedeutet, daß das Dasein erst vom Sein in sein Dasein geworfen werden kann, wenn es ein Verständnis von seinem (puren) Sein des Da gewonnen und dieses gleichsam ermächtigt hat, es zu werfen.
Die Zirkelhaftigkeit, die Heidegger so aggressiv gegen die angeblich ver-sagende konventionelle Logik wendete und methodisch etablieren wollte, zeigt sich hier als die vorsätzliche Selbstbezüglichkeit eines psychischen Momentes (des „Daseins“), das sich allein an einem angeblichen transzendenten Allgemeinen (dem „Sein“, dem „Daß“) bilden will und soll, während es alle Bezüge zum Körperlichen (dem „Seienden“, dem „Was“) abstreift. Indem sich Heidegger auf konkrete Befindlichkeiten nicht hören, sondern sie als bloß gegebene, uneigentliche ausweisen will, verstrickt er sich in eine sozial-autistische Verschlingung. Denn er bestimmt etwas als ein elementar Allgemeines, was doch so offensichtlich sein eigenstes Problem war. Er projizierte etwas, was er an sich selbst nicht wirklich wahrhaben wollte, auf das Leben der anderen. In Sein und Zeit schrieb er, daß die „Verstimmung“ den „Lastcharakter des Seins des Da“ offenbar mache. Das ist psychologisch insofern nicht ganz zutreffend, als Verstimmungen lediglich bestimmte Belastungen oder Überlastungen reflektieren. Wenn einer es als lastend empfindet, überhaupt da zu sein, dann handelt es sich schon um eine nicht mehr gewöhnliche, bald vorübergehende, sondern depressive Verstimmung, die zu ihrer adäquaten Benennung jene Prädikation verlangt.
Gegenüber diesem „überhaupt da zu sein” ist allerdings eine Einschränkung vorzunehmen, denn Heideggers „Sein des Da” betrifft, wie bereits anklang, allein das schon irgendwie sozialisierte oder sich der Sozialität anpassende Einzelwesen. Das heißt, es wäre nach Heidegger also prinzipiell eine schwere Last, in der Gesellschaft leben, sich sozial verhalten und im sozialen Rahmen für sich sorgen zu müssen - eine Anforderung, der Kinder, Kranke und Greise enthoben sind und der sie sich jederzeit wieder entziehen können, wenn ihre Kräfte für dergleichen Aktivitäten nicht ausreichen. Die Unmöglichkeit solchen Enthoben-werdens und Sich-entziehen-Könnens, weil Kindlichkeit, Krankheit oder Hinfälligkeit nicht geltend gemacht werden können, macht dann das mitunter auch existenzielle Problem. Das aktuelle Leben schrumpft um so mehr auf den bitter empfundenen Zwang zur bloßen Selbsterhaltung, je mehr ein nicht kompensierter Verlust an mentalen und physischen Kräften zur Behauptung einer bestimmten Position innerhalb des sozialen Gefüges empfunden wird.
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