Reinhard Linde
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Autor - Writer |
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Auszug
aus dem Aufsatz:
Heideggers Welt
erschienen in dem Buch:
Bin ich, wenn ich nicht denke?
Studien zur Entkräftung, Wirkung und Struktur totalitären Denkens
Centaurus Verlag Herbolzheim 2003
Inhalt
Das gehorsame Gewissen
Heideggers totalitäre Welt: die Gewalt in der POLIS
Das ontische Ideal - die Utopie vom Kampfstaat
Die Expansion des kollabierten Willens
Heideggers Traum von deutscher Volkwerdung: Das Ereignis der Sammlung des
Volkes
Aus der Einleitung
Eine Philosophin plädierte einmal dafür, den „intellektuellen
Kern der Argumentation Heideggers” nicht zu ignorieren, indem der „seltsamen
Konkurrenz” von Geist als Subjektivität bei Fichte und Hegel und
als Form bei Cassirer und Plessner einerseits, als Schicksal bei Heidegger
andererseits nur affektiv begegnet würde. Sie stellte einige zentrale
Aussagen von Cassirer und Plessner über die Grundbezüge des Menschen
zur „Welt” solchen von Heidegger pointiert gegenüber und
fragte, ob eine Entscheidung für eine dieser beiden gegensätzlichen
Grundpositionen getroffen werden könne.
Anlaß für die folgende Untersuchung ist ihre Unterstellung, es
handele sich bei den thematisierten Positionen aller genannter Denker um
denkerisch
gleichwertige und vor einer philosophischen Kritik gleichermaßen legitime.
Das ist jedoch durchaus nicht der Fall. Um den „intellektuellen Kern” von
Heideggers Argumentation nicht ignorieren zu können, müßte
er aufgewiesen werden bzw. als bereits hinlänglich aufgewiesen gelten.
Doch auch Christa Hackenesch las, ebenso wie viele andere namhafte Heidegger-Autoren,
Heidegger mit subjektivitätspsychologischer Brille und sah über
seine notorischen antindividualisierenden, kollektivistischen und offenbarungsgläubigen
Absichten hinweg. Seine 1929 im Disput mit Ernst Cassirer erhobene, von Hackenesch
zitierte Forderung, den Menschen „radikal der Angst auszuliefern”,
ihn frei werden zu lassen für seine Endlichkeit und ihn „zurückzuwerfen
in die Härte seines Schicksals”, gehört zu den unbarmherzigsten
Sätzen, die im vergangenen Jahrhundert geäußert wurden. Heidegger
schwebte dabei vor, daß die Angst und die mentale Fixierung auf die
Unvermeidlichkeit des eigenen Todes eine psychische Umschlagsreaktion auslösen
und damit das wahre Heldentum, die „eigentliche Entschlossenheit“ begründen
können, die sich solchen geschicklichen Aufgaben stellt, die ohne Todesmut
nicht erfüllbar sind. Daß er darunter die Sendung der Deutschen
verstand, das europäische Abendland vor der Bedrohung aus dem Osten
und aus dem liberalistischen Nordamerika mit kriegerischen Mitteln zu retten,
hat
er mit seinem ab 1930 zunehmend offeneren Anschluß an die Nationalsozialisten
faktisch, und mit seinen Reden und Schriften nach 1933 auch formell klargestellt.
Nach der Seite der potentiellen Helden hin hat er also mit jenem Satz ein
selbstopferndes Heldentum für ein bestimmtes Kriegsziel propagiert.
Für all die Menschen
aber, die sich durch Angst und Todesbezogenheit nicht selbst mobilisieren
können,
bedeutet das Zurückgeworfenwerden in die Härte des Schicksals
die blanke Ohnmacht, die Auslieferung an die grausamen Zufälle des Lebens,
an den permanenten Verlust von Geliebtem, an politische Führungen, die
vorgeben, worin das Schicksal besteht und wofür das Leben hingegeben
werden muß. Das Geschick für diese Menschen besteht ausdrücklich
darin, an die Verfallenheit und die Bedeutungslosigkeit des „Man“ gebannt
zu bleiben, sofern die Helden nicht eben den Trott aufheben und die historische
Dynamik initiieren, die auch die uneigentlichen Menschen an ihren Kampfplatz
stellt. Diese Duplizität der Intention schafft nicht nur eine ungeheure,
unmenschliche Kluft zwischen zwei Menschengruppen, sondern sie läuft
dort, wo sich die beiden Zweige durch den Bezug auf die Gesamtaufgabe wieder
treffen,
auf eine schier unüberbietbare Manipulation von Schicksal hinaus und
kann so mit „Geist“, auf den sie sich ständig beruft, nicht
mehr das geringste zu tun haben. Es handelt sich nur noch um politpsychologische
Absichten.
Um das Eingebettetsein dieser Absichten in eine bestimmte, charakteristisch
verzerrte Gesellschaftserfahrung beziehungsweise Gesellschaftsprojektion
Heideggers soll es im folgenden gehen. Deren starke Begrenztheit soll zunächst
durch einen kontrastierenden Vergleich mit den implizite von Cassirer und
Plessner
bezogenen sozialen Milieus beleuchtet werden. Diese beiden und Heidegger
hatten völlig verschiedene „Welten”, das heißt spezifische
kulturelle oder sozialpsychologische Konstellationen vor Augen, deren Züge
sie menschheitsgeschichtlich verallgemeinerten. Die heideggersche Sozialutopie
kann dagegen nicht verglichen werden, da es etwas Vergleichbares bei Cassirer
und Plessner nicht gibt. Es sollen jedoch nicht die Theoreme aller drei als
komplexe Argumentationsnetze referiert und diskutiert, sondern wissenssoziologische,
historische und sozialphilosophische Erwägungen und Verweise an deren
zentrale Postulate angeschlossen werden.
...
Aus: Das ontische Ideal - die Utopie vom Kampfstaat
Obwohl Heidegger bekanntermaßen auf die prinzipielle Geschichtlichkeit
allen realen Lebens, Denkens und Auffassens abhob, hat er neben der historistischen
Relativierung aller Positionen der Geistesgeschichte nichts weniger unternommen,
als eine überhistorische, immer gültige Analytik des alltäglichen
Daseins vorzulegen und aus ihr überzeitliche onto-logisch-existenzielle
Schlüsse zu ziehen. Daran ist er zu messen. Daß hingegen nach
seiner Version auch sein eigenes Dafürhalten historisch bestimmt und
zeitlich bemessen war, focht ihn nicht an zu glauben, daß es doch für
diese Zeit etwas Absolutes fasse und initi-iere. Nach einer ungeheuer langen
Periode
angeblicher „Seinsvergessenheit” seit der frü-hen griechischen
Philosophie meinte er deshalb, Sinn für eine lange Zukunft neu und „an-fänglich” stiften
zu können, indem er vorgab, als erster wieder die Frage nach dem „Sinn
von Sein” zu stellen. Der Sinn von Sein kreist in formaler Hinsicht
jedoch nur um die pure Selbstbehauptung, nicht des Einzelnen, sondern des „Daseins” -
einer jeweiligen kollektiven Entität, zu der der Einzelne in dem Sinne
gehört, daß sie seine eigene ist (diejenige, die ihm Identität
gibt). Ausgehend von diesem Sinn forderte er die kampfbereite Gemeinschaft
des Volkes als verschlossene Gesellschaft, um in ihrem Rahmen sein brutalisiertes
gräco-romantisches Stände- und Kampfstaatsideal verwirklicht zu
finden. Dieses Ideal als materiale Anwendung des Sinnes von Sein und als
geradezu bilderbuchrreife
totalitäre Utopie legte er jedoch erst offen, als er nach der Machtergreifung
der Nationalsozialisten hoffen konnte, daß ein staatlicher Machtapparat
ihm bei dessen Realisierung helfen würde. Komplementär zu seiner
Fassung der innerlich bindenden Kräfte der „Angst“ und des „Gewissens“ entwarf
er die kampfstaatliche und unifizierende Utopie der POLIS.
Im Kopfe hatte er das „Ideal“ allerdings schon bei der Niederschrift
von Sein und Zeit. Dort ließ er durchblicken, daß die Basis seiner
ontologischen Generalisierungen ein nicht deutlich gemachtes „faktisches
Ideal” sei, ließ es aber ausgesprochenerweise vorsätzlich
an keiner Stelle dieser Schrift transparent werden. Dieser Umstand stellt
eine politische Unge-heuerlichkeit dar, wegen derer Heidegger sofort als
Quacksalber
aus dem Felde der Philo-sophie hätte ausgeschlossen werden müssen.
In Sein und Zeit ist zu lesen: „Aber liegt der durchgeführten
ontologischen Interpretation der Existenz des Daseins nicht eine be-stimmte
ontische Auffassung
von eigentlicher Existenz, ein faktisches Ideal des Daseins zugrunde? Das
ist in der Tat so. Dieses Faktum darf nicht nur nicht geleugnet und ge-zwungenerweise
zugestanden, es muß in seiner positiven Notwendigkeit aus dem themati-schen
Gegenstand der Untersuchung begriffen werden. Philosophie wird ihre `Voraussetzungen`
nie abstreiten wollen, aber auch nicht bloß zugeben dürfen. Sie
begreift die Vor-aussetzungen und bringt in eins mit ihnen das, wofür
sie Voraussetzungen sind, zu ein-dringlicherer Entfaltung. Diese Funktion
hat die jetzt geforderte methodische Besinnung.“ Das heißt, Heidegger
behauptet, die Voraussetzungen seiner Philosophie - ein ontisches, faktisches
Ideal des Daseins, wie es jedermann als Fantasie haben kann - verstanden
zu haben und erklärt offen, daß alles methodische Philosophieren
nur dem Zweck dient, ein solches Ideal „eindringlicher zu entfalten“.
Die existenziale Analytik, die ansonsten als „Hermeneutik der Faktizität“,
das heißt als selbstzweckhafte Auslegung unbezweifelbarer Fakten daherkommt,
entpuppt sich blitzlichtartig als bloßer Funktionsträger der Hinführung
auf dieses Ideal. Diesen methodischen Charakter der existenzialen Analytik
gibt er selbst preis und schwingt sich über einen verbal eingeräumten
Rechtfertigungsdruck auf die universale Ebene. Es folgt die Formulierung
seines Anspruchs auf die allgemeine Verbindlichkeit seiner Existenzauffassung
vom
Tod als höchster Instanz des Seinskönnens auf jener Grundlage.
Der Tod respektive das Vorlaufen in den Tod ist aber nur ein Transformationsmodus,
der der Erzeugung einer individuellen Bereitschaft dient, das Ideal auch
wirklich in die Tat umzusetzen und sich notfalls mit dem eigenen Leben für
es zu opfern. Das Ideal als konkretes blieb in Sein und Zeit verschleiert.
Seine
Grundzüge lassen sich aber auch schon dort durch die Verknüpfung
oft weit auseinanderliegender Stellen rekonstruieren, die Heideggers durchgängige
Befangenheit in nur gewaltsam verallgemeinerbaren Positionen der Gewalt vor
Augen führen. Seine ganze Existenzialanalytik führt zu Entschlossenheit
zum Tod (Krieg), Volksgemeinschaft und Kampf, Geschichtlichkeit als Wiederholung
von Monumentalem, zum Reich. Das Raunen, das Thomas Mann bei Heidegger fand,
ist nur die begriffliche Verbergung dieses seines Zieles gegenüber denjenigen,
die nicht berufen waren, daran mitzuwirken und die dieses „Ideal” nichts
angehen sollte. 1935 dann beschrieb er die innere Organisation des Reiches,
das er POLIS nannte.
Es handelt sich dabei um nichts anderes als um die pseudosoziologische Konkretisierung
des ontischen Existenzideals. „Die POLIS ist die Geschichtsstätte,
das Da, in dem, aus dem und für das Geschichte geschieht. Zu dieser
Geschichtsstätte
gehören die Götter, die Tempel, die Priester, die Feste, die Spiele,
die Dichter, die Denker, der Herrscher, der Rat der Alten, die Volksversammlung,
die Streitmacht und die Schiffe. All dieses gehört nicht erst dadurch
zur POLIS, ist nicht dadurch politisch, daß es zu einem Staatsmann
und einem Feldherrn und zu den Staatsgeschäften eine Beziehung aufnimmt.
Vielmehr ist das Ge-nannte politisch, d.h. an der Geschichtsstätte,
insofern z.B. die Dichter nur, aber dann wirklich Dichter, indem die Denker
nur, aber dann
wirklich Denker, indem die Priester nur, aber dann wirklich Priester, indem
die Herrscher nur, aber dann wirklich Herrscher sind. Sind, dies sagt jedoch:
als Gewalt-tätige Gewalt brauchen und Hochragende werden im geschichtlichen
Sein als Schaffende, als Täter. Hochragend in der Geschichtsstätte
werden sie zugleich APOLIS, ohne Stadt und Stätte, Ein-same, Un-heimliche,
ohne Ausweg inmitten des Seienden im Ganzen, zugleich ohne Satzung und Grenze,
ohne Bau und Fug, weil sie als Schaffende dies alles je erst gründen
müssen.“
Macht man sich klar, welcher Art die realen Menschen wären, für
die Heidegger in seinem POLIS-Modell Maßstäbe entwirft, so kommt
man zu einem einfachen Ergebnis: es wären mit aller denkbaren Machtfülle
ausgestattete Ungeheuer. Es kann davon abgesehen werden, daß Heidegger
seine utopischen Vorstellungen in eine angeblich schon in dieser Weise vorfindliche
Vergangenheit projizierte und suggerierte, es hätte solche Menschen
in einer solchen Gesellschaftsstruktur bereits in der Antike gegeben. Es
muß nicht
ausführlich bewiesen werden, daß ihre Tyrannen, aber nicht „die“ Griechen
so waren, ihre Sozialität so nicht aufgebaut war, auch wenn die heideggersche
Grobsicht als vermeintlicher essentieller Querschnitt der griechischen Staatlichkeit
durch die verschiedenen Epochen hindurch gelesen werden will. Einer detaillierten
Erwiderung in diesem Sinne würde Heidegger auch ungerührt entgegnen,
es käme nicht darauf an, ob die Griechen dieses Ideal tatsächlich
realisiert hatten, sondern darauf, daß sie sich als erste in diese
Richtung bewegten und einen Anfang machten, der als mächtige Potenz
fortwirkte und heute von den Deutschen in die Form seiner Verwirklichung
und Vollendung
gebracht werden müsse.
Es springt in die Augen, daß Heidegger gegen alle Realität will,
daß es Götter, Priester, Tempel, Feste, Spiele, Dichter, Denker,
einen Herrscher und so weiter gibt, daß Priester, Denker und der Herrscher
nur eben das sind. Er meint, daß sie das nur dann wirklich sind, wenn
sie restlos mit ihrer Funktion identisch werden, wenn sie Gewalttätige,
Gewaltbrauchende, Hochragende, Einsame, Unheimliche ohne Satzung, Grenze,
innere Struktur und Vergangenheit sind und über die Macht verfügen,
das was sie sind und was die Gesellschaft strukturieren soll, überhaupt
erst zu setzen und zu erzwingen. Heidegger will, daß „das Rangmäßige
ist das Stärkere“ und daß „das Wahre ist nicht für
jedermann, sondern nur für die Starken.“. Er will, daß der
Geist mächtig, daß er das Tragende und Herrschende sei, obwohl
er der gesunden leiblichen Tüchtigkeit nachgeordnet (!) werden müsse,
er will den Vorrang der wahren Kraft und Schönheit des Leibes, der Sicherheit
und Kühnheit des Schwertes und der Echtheit und Findigkeit des Verstandes
vor allem anderen, was offenbar der Gründung durch den Geist nicht in
gleicher Weise würdig ist. Es handelt sich nämlich sämtlich
um emphatische Attributierungen und Zuordnungen, die sich einer begründbaren
Vermittlung entziehen und sich bei nüchterner Analyse nur als dicke
Luft darstellen. Priester, Denker und Herrscher können sich gar nicht
als solche erst setzen und in ihrer Spezifik formen, wenn sie nicht schon
per allgemeinem
Einverständnis oder per Administration in diese Positionen gesetzt sind,
wozu es einer vorhergehenden Profilierung bedarf. Allein selbstangemaßte „Priester“ und „Herrscher“ können
sich in einer Art von Putsch in Positionen bringen, innerhalb derer sie sich
erst Satzung und Grenze geben und inhaltlich qualifizieren. Aber Priester
können
nicht Götter machen, wenn es in der Gesellschaft gar keinen Glauben
an Götter gibt oder eine dahingehende Glaubensbereitschaft besteht.
Die vollständige
Selbstfunktionalisierung eines jeweiligen Verantwortlichen für einen
spezifischen sozialen Aufgabenbereich ist nicht allein extrem menschenfeindlich,
sondern
inhaltlich und auch gerade in funktioneller Hinsicht nicht beschreibbar.
Sie ist nur als vorsätzliche Täuschung der Öffentlichkeit
realisierungsfähig.
Funktionsträger „ohne Satzung und Grenze, Bau und Fug“ sind
nicht nur unkontrollierbare und gewollte Ausbünde von Willkür,
sondern gewaltsam von jeder vorhergegangenen persönlichen Ausformung
und von sozialer Kontinuität entbundene, in sich selbst richtungslose
Monstren. (Vermutlich hätte sich selbst Hitler, dem eine solche Beschreibung
relativ durchaus angemessen ist, öffentlich gegenüber solcher Fassung
seiner Aufgabe und Eigenschaften als Führer verwahrt.) Die Titulierungen
Gewalttätige,
Hochragende, Einsame und Unheimliche bezeichnen durchgängig eine soziale
Unverbundenheit und Selbstisolation, von der aus in keiner Weise einsichtig
gemacht werden kann, wie diese übermenschlich Entfernten überhaupt
zu konstruktiven Neugestaltungen der übrigbleibenden menschlichen Zwergenwelt
gelangen können, ja dazu überhaupt motiviert sind. Es ist nicht
mehr ableitbar, daß sie anderes tun würden, als miteinander eine
Sonderwelt zu bilden, die das Fußvolk zu ihren Eroberungszwecken mißbraucht
und wie ungeformten Stoff nach ihrem unvermittelbaren Gutdünken modelliert.
In diesem Sinne beschreibt Heidegger ziemlich genau das, was die nationalsozialistische
und stalinistische Funktionärsschaft soziologisch und individualpsychologisch
schon charakterisierte.
Rang und Stärke wiederum sind inkommensurable Größen mit
gänzlich
heterogenen Bemessungskriterien, die, wenn überhaupt, erst aufeinander
bezogen werden können, wenn es um die Bewältigung einer konkreten
Aufgabe geht. Doch auch dann muß zunächst klar sein, um welch
eine Art von Rang und um welche bestimmte Stärke es gerade geht. Daß den
Schwachen die Wahrheit vorenthalten werden muß, kann nur dann gelten,
wenn die Eigenschaften der Wahrheit, nämlich konstruktiv, erhellend,
befreiend, handlungseröffnend, verbindend zu sein, außer Kraft
gesetzt werden - denn all das, was in dieser Weise Wahrheit ausmacht, brauchen
gerade die
Schwachen. Es löst sich dann auch der Sinn des Begriffs der Stärke
auf, denn wenn Wahrheit nur das sein soll, was nur die Starken verkraften
und nutzen können, dann erhebt sich die Frage, wie sie, die auch einmal
schwache Kinder waren, ohne die Wahrheit so stark wurden, daß sie sie
schließlich
hören und ergreifen konnten.
Dies alles trug Heidegger zu einer Zeit vor, die sowohl in seiner späteren
eigenen Darstellung als auch in den Augen vieler, sogar kritischer Heidegger-Interpreten
von seiner Distanzierung zum Nationalsozialismus geprägt gewesen sein
soll. Das mag in gewisser Weise sogar zutreffen, hat doch der „reale“ Nationalsozialismus
in vielen Punkten mit dem von Heidegger hier skizzierten Gesellschaftsbau äußerlich
wenig zu tun. Es gab im Dritten Reich keine Priester-, keine Dichter-, keine
Denkerkaste, keinen Rat der Alten und keine Volksversammlung im antiken Sinne.
Gemessen an Heideggers ontischem „Ideal“, das sich nicht mit
dem bekannten Arier- und Germanenkult der Nationalsozialisten zu decken scheint
(wenn man vergißt, daß jene wieder zu erstehende, heldische Griechenwelt
nach Heidegger ja vom deutschen Volk als authentischem Nachfolger der Griechen
realisiert werden sollte), mußte sich der Nationalsozialismus der Jahre
nach 1934 in Heideggers Augen als modernistisch und garedezu massengesellschaftlich
angekränkelt beziehungsweise in diesem Sinne bedroht, als labil und
auf „geistiger“ Ebene
unentschlossen ausnehmen.
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