Reinhard Linde

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Bin ich, wenn ich nicht denke?
Studien zur Struktur, Wirkung und Entkräftung totalitären Denkens
Rezension von Monika Beck M.A.

erschienen in den "Israel Nachrichten" am 08.08.2003

Jede Diktatur erschafft Mitläufer, die aus Karrieregründen die herrschende Ideologie unterstützen.
Hat Martin Heidegger (1889-1976) um seines Lehrstuhls willen dem Nationalsozialismus scheinbar zugestimmt? Das wollen jedenfalls seine Verteidiger beweisen. Der Berliner Historiker und Philosoph Reinhard Linde macht den Spekulationen, die diesem neuzeitlichen Philosophen bloß zeitbedingten Opportunismus unterstellen, ein Ende. In seinem eben erschienenen Buch „Bin ich, wenn ich nicht denke?“ stellt er Martin Heidegger gemäß der Worte Martin Bubers als den „Hitler des Denkens“ heraus. Heidegger habe die Naziideologie ontologisch untermauert und eine „Ethik“ der Gewalt formuliert.

Reinhard Linde, Jahrgang 1955, schloss 1980 ein Geschichtsstudium an der Humboldt-Universität zu Berlin ab. Er musste sich als Regimekritiker in der DDR mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Die negativen Erfahrungen in einer Diktatur haben ihn dazu bewogen, dem Phänomen Totalitarismus auf den Grunde zu gehen. Linde lebt als freier Autor in Berlin.

Martin Heidegger war kein Antisemit im eigentlichen Sinne des Wortes. Kein schlechtes Wort über Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle oder andere Zielscheiben der nationalsozialistischer Verfolgung habe er in seinen Werken geäußert. Doch er stellte den Kampf gegen den Feind als höchstes Prinzip der Existenz dar, und unter seinem Begriff des Feindes verbergen sich alle Feindeskonstruktionen der Nazis.
Wer kennt nicht den berühmten Satz von René Descartes „Cogito ergo sum“, „Ich denke, also bin ich.“ Bei Heidegger sei das Individuum noch bevor es denke, d. h. „es kommt ihm zum Bewusstsein, das es ist, indem es sich das bloße Vorhandensein der Dinge in seiner alltäglichen Umwelt vergegenwärtigt.“ Linde zieht in diesem Zusammenhang eine Parallele zwischen der marxistischen und der heideggerschen Ontologie. Das Sein bestehe im Marxismus in der Totalität der gesellschaftlichen Mechanismen. Bei Heidegger stelle dieses Sein das Volksdasein dar. In beiden Fällen werde die Realität über die Wahrnehmung der einzelnen Dinge und Wesen hinaus rein phänomenologisch als unpersönliches Dasein gesehen. Mehr noch: der Einzelne, das Individuum, gehe ganz im personenlosen „Man“ auf. Schon 1927 habe Heidegger in seinem Werk „Sein und Zeit“ das „Dasein“ mit der „Gemeinschaft des Volkes“ identifiziert. Diese nationale Gemeinschaft rühre vom „urgermanischen Stammeswesen“ her.
Bekanntlich hat in der Antike Platon die Utopie vom vollkommenen Staat aufgebaut. In hierarchischer Rangordnung werden die Tugenden aufgezählt: Selbstbescheidung und Gehorsam für die Bauern und Handwerker, danach die Tapferkeit und selbstlose Pflichterfüllung im Stand der Krieger und Beamten, gedacht, um den Staat vor Feinden zu verteidigen und die innere Ordnung zu wahren. Schließlich obliegt die oberste Tugend, die der praktischen Weisheit, dem Herrscher, der die Gesetzgebung bestimmt und den Staat leitet. Heidegger setze dagegen, so Linde, seinen idealen Staat in ganz andere Rahmen der Wahrheit und Ethik. „Das Wahre, das einzig Wahre“ sei das, was „unserem Dasein jetzt und hier Gesetz und Halt gibt“ schärfte er seinen Studenten inmitten der Naziherrschaft ein. Lindes Darstellung läßt erkennen, daß Heidegger Platons Gesellschaftsideal verzerre und ihm die Volksgemeinschaft des „urgermanischen Stammeswesens“ aufpfropfe, deren „Grundmöglichkeiten auszuschöpfen und zur Herrschaft zu bringen“ seien. Das sei auch eine Utopie, doch eine mörderische Utopie, für die Heidegger einen anderen Griechen heranzog, nämlich Heraklit mit seiner Theorie des Kampfes als den grundbestimmenden Faktor der Existenz. Doch sprach Heraklit über einen sichtbaren Kampf gegensätzlicher Dinge sowie eine aus der Gegensätzlichkeit hervorgehende Harmonie. Heidegger dagegen untermauere den Nationalsozialismus, indem er überall den Feind, der vernichtet werden soll, zu suchen empfahl. Der Feind stecke auch innerhalb des verherrlichten Volkskörpers, und sei er nicht aufzufinden, müsse er „erfunden“ werden. Denn ohne den Feind gebe es keinen Kampf und ohne Kampf kein Dasein.

Heidegger musste nicht „Juda verrecke“ mit dem Pöbel schreien. Er konnte auf der Höhe des elitären Denkers bleiben, wenn andere in dem Feind, der sich „in der innersten Wurzel des Daseins eines Volkes festgesetzt haben kann“, den Juden, den Sinti und Roma, den Kommunisten, den Pazifisten und den Homosexuellen entdeckten.
Heideggers „Ethik“ sei der erbarmungslose Kampf, der in zügelloser Gewalt und Vernichtung münde, denn er fordere, daß der Angriff „auf weite Sicht mit dem Ziel der völligen Vernichtung“ angesetzt werden müsse. Wie alle totalitären Denker dachte auch Heidegger an eine verfallende Welt, die unbedingt und vollständig nach den Gesetzen des (Volks)Seins erneuert werden müsse. Nicht Liebe und Verantwortung sollten die kranke Menschheit retten, sondern, das „Vorlaufen in den Tod“, absoluter Gehorsam, Rang und Stärke. Das Mittel dieser „Rettung“, die Todesbereitschaft, schließe das Morden ein, so Linde. Der Tod wurde bei Heidegger und den Nazis gleichermaßen verherrlicht. Dies sei ein Charakterzug der Diktaturen schlechthin, betont er. Der Autor: „Spätestens 1933 hatte er (Heidegger) definitiv die Absicht, ethische Verankerungen der Tötungshemmung prinzipiell aufzulösen, um eine Tötungsbereitschaft für die mystisch-unbestimmte, angeblich bedrohte Sache des `Volkes` zu erzeugen.“ Linde: „Götz Aly (ein zeitgenössischer Historiker und Faschismusforscher, Anmerkung M.B.) schrieb zum Denken Bin Ladens und Ernst Jüngers: >Die behauptete Situation absoluter Existenzbedrohung rechtfertigt das bedingungslose Opfer des eigenen Lebens und den Einsatz aller, aber auch aller Mittel gegen einen verschlagenen, heimtückischen – im Innern schon virulenten – Feind<. Dieser Satz gilt uneingeschränkt auch für die Philosophie Heideggers.“

Noch 1949, als die industrielle Massenvernichtung der Nazis gerade in ihrer ganzen Dimension zum Vorschein gekommen war und die stalinistischen Massenmorde noch wüteten, hielt Heidegger im Club von Bremen den Vortrag „Die Gefahr“, in dem er behauptete: „Hunderttausende sterben in Massen. Sterben sie? Sie kommen um. Sie werden umgelegt. Sie werden in Vernichtungslagern unauffällig liquidiert. Und auch ohne Solches – Millionen verelenden jetzt in China durch den Hunger in ein Verenden.“ Menschen die nicht sterben, sondern „verenden“, seien für Heidegger aber keine Menschen, sondern Tiere (wie er schon 1927 schrieb). Die in den Vernichtungslagern „umgelegten“ Menschen seien außerdem nicht ernst zu nehmen, weil sie das Wesen der Existenz nicht erkannt hätten – sie hätten nicht gekämpft. Linde: „Eine kältere und zynischere Rechtfertigung des Massenmordes hat es nicht gegeben“. Vor dem Sein (des Volkes) habe nur derjenige Würde, der den Tod liebe. „Sterben aber heißt, den Tod in seinem Wesen austragen. Sterben können heißt, den Austrag vermögen. Wir vermögen es nur, wenn unser Wesen das Wesen des Todes mag.“ Nicht das Streben für eine den Mord verabscheuende humane Gesellschaft, nicht das Bemühen für eine das Sterben durch Hunger besiegende Politik sei das höchste Ideal bei Heidegger, sondern das scheinbare „Ganzwerden“ im Tod. Das beinhalte die Vernichtung der „Feinde“, die angeblich dem „Volksganzen“ den ontologischen Aufstieg zu einem höheren, historischen Sein verwehren wollen.
Im obigen Denken sieht Linde einen sozialen Autismus, eine gruppenbildende Schizophrenie. Der klinisch Schizophrene lebe in einer Scheinwelt, die, getrennt von der Realität, auf sein eigenes Inneres gerichtet bleibe. Auch der soziale Autist produziere sich eine utopische Scheinwelt, da er aus dem psychosozialen Netz herausgefallen bzw. ausgeschlossen sei. Er glaube jedoch, dass er seine Isolation durch den Gewinn absoluter Macht über viele Menschen aufheben könne und verbinde sich mit Gleichgesinnten zu Gruppen, um solche Macht zu erlangen. Diese sozialen Autisten formulieren ein Programm, das den anderen Gesellschaftsmitgliedern eine „vollkommene“ Welt suggeriere. Sie versprechen, Vollkommenheit und Konfliktlosigkeit herbeizuführen, wenn der letzte Kampf unter ihrer Führung gegen alle „Feinde“ der „Harmonie“ und „völkischer Größe“ ausgetragen sei. Sie machen durch Manipulation ihre Scheinideologie den Massen „glaubhaft“. Soziale Autisten wirken zerstörerisch nach innen und nach außen. Sie verkümmern seelisch an ihrem Machtwahn, und oft in der Geschichte sei ihre Herrschaft mit einer etablierten religiösen Machtposition vergleichbar gewesen, dem Millionen Menschen zum Opfer fielen. Solche Erscheinungen waren der Nationalsozialismus, der Stalinismus und heute sei es der islamischen Fundamentalismus. Durch seine Gruppenhaftigkeit sei der soziale Autismus nicht in einer Psychiatrie isolierbar.

Linde sieht diesbezüglich in der Philosophie Heideggers ein „gemeingefährliches Gedankenverbrechertum“. Er zeigt in den Kapiteln seines Buches, dass Heidegger schon in den 1920er Jahren völkische und totalitäre Prinzipien zur Grundlage seiner Philosophie machte und deshalb keineswegs zufällig zum Nationalsozialismus stieß, sondern diesen bis zuletzt für die einzige Bewegung hielt, die seine Ideale verwirklichen könnte. Ein Kapitel gilt dem verwandten Denken des Heidegger-Anhängers Peter Sloterdijk. Am Beispiel der humanen und verantwortlichen Ethik René Descartes erläutert Linde abschließend eine Haltung, die den einzelnen Menschen Gerechtigkeit und Achtung wiederfahren lässt.
Im Gegensatz zu totalitären Zwangs- und Terrorsystemen würden die demokratischen Gesellschaften um die Bewältigung konkreter Problem kämpfen. Statt projektierter Aggressionen gegen konstruierte Feinde werden dort die Schwierigkeiten demokratisch ausgetragen. Es werde nicht dem Tod, sondern dem Leben gehuldigt und Mittel gesucht, um Mord, Gewalt und Hungerstod auszugrenzen.
Man kann abschließend sagen, dass Heideggers „Ethik“ der Todesbereitschaft im krassen Gegensatz zu der jüdischen Sittenlehre steht. Das menschliche Leben stellt im Judentum das höchste Gut dar und dessen Bewahrung die höchste Tugend. Der Talmud sagt, wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Menschheit.

Monika Beck M. A.

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