Reinhard Linde
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Informationen zum Buch
Bin ich, wenn ich nicht denke?
Studien zur Entkräftung, Wirkung und Struktur
totalitären Denkens
Centaurus Verlag Herbolzheim 2003
ISBN 3-8255-0350-X
Totalitäre Phänomene wurden
bislang fast nur aus der historischen, politikwissenschaftlichen oder
erzählerischen Perspektive untersucht. Die verbleibenden, teilweise
noch gravierenden Forschungs- und Verständnislücken können
jedoch durch die Einbeziehung sozialpsychologischer, ethischer und philosophiekritischer
Analysen tendenziell geschlossen werden. Totalitäres Denken und
Handeln folgt einer besonderen inneren Logik, die friedlichen und kooperativen
Haltungen diametral entgegengesetzt ist.
Ihre Momente und die Art ihrer Bezogenheit aufeinander zu zeigen, um den
suggestiven Bann totalitärer Verbalität und Emotionalisierung
zu brechen, setzen sich die Studien zum Ziel. Im Sinne eines Fallbeispiels
von hochambitionierter und intellektuell weithin undurchschauter oder unterstützter
totalitärer Demagogie konzentrieren sie sich besonders auf den Zusammenhang
zwischen der Person Martin Heideggers und seinen philosophischen Positionen.
Dabei werden auch einige Resultate von vertieften Text- und Sachrecherchen
vorgelegt, die für die spezielle Heidegger-Forschung von hoher Bedeutung
sind.
Die Begründung ethischer Positionen, die den Menschen und Lebewesen
als Individuuen tatsächlich Gerechtigkeit widerfahren lassen, ist
integraler Bestandteil der Texte.
Inhalt
Arbeitsgespräche unter Züchtern.
Zwei Anrufe Sloterdijks im Jenseits 12
Im Liebesstrom zum Globalfaschismus?
Sloterdijk, Heidegger und die Gewalt des Menschen über den Menschen
50
Heideggers Welt 94
Geworfenheit auf die todbringende Wetterwarte.
Kriegsfixierung, Todeskult und sozialer Autismus im Denken Heideggers 152
Das Stehen gegen den Feind.
Heideggers Ontologie des totalen Krieges und der „völligen Vernichtung“ der
Feinde des Nationalsozialismus von 1933 300
Bin ich, wenn ich nicht denke? 330
Literaturverzeichnis 361
Vorwort
Saul Friedländer wies vor einigen Jahren darauf hin, daß es
auf dem Gebiet der psychologischen Durchdringung des faschistischen Denkens
noch immer große Defizite gibt. Es gebe eine „Theoriewüste“ bei
der Erforschung des Nazismus, die nur durch eine Synthese der verschiedenen
Ansätze zu überwinden sei. Diesen Mangel zumindest ansatzweise
auszugleichen, fühlt sich die hier vorgelegte Aufsatzsammlung verpflichtet.
Die Texte befinden sich auf dem Weg zu einer Theorie der psychodynamischen
Struktur jeglichen totalitären Denkens, von der her unter anderem
auch die faschistische Mentalität in all ihren theoretisierenden,
reaktiven und praktischen Momenten erfolgversprechend analysiert werden
kann.
Totalitäre Denkweisen sind ideologisch diversifiziert, oft in verbaler
Hinsicht sehr gegensätzlich und feindlich aufeinander bezogen. Sie
führen aber in jedem Fall zu praktisch gleichem Terror und Zerstörungshandeln
und haben stets starke Sympathien und Vorbildfunktionen füreinander
durchscheinen lassen. Die äußerlich reklamierten Inhalte selbst
zeigen ein auffällig hohes Maß an tatsächlicher Ungenauigkeit,
Unverbindlichkeit und Austauschbarkeit. Der Kern solcher Ideologien muß also
vielmehr in einem charakteristischen System von pauschal negierenden
Affekten gesucht werden, das jeder dieser Ideologien in gleicher Weise
zu Grunde liegt und sich auf ähnliche historische, soziale, politische
und individualgeschichtliche Konstellationen bezieht.
Die Darlegung dieses aus mehreren Radikalisierungsstufen bestehenden Systems
muß einer größeren theoretischen Studie vorbehalten bleiben.
Die präsentierten Texte fassen einzelne Aspekte dieser Problematik
ins Auge und sind jeweils auf einen selbständigen, greifbaren wissenschaftlichen
Gewinn orientiert. Eingangs veranschaulichen die hauptsächlich aus
Zitaten aufgebauten, fingierten Arbeitsgespräche Sloterdijks
mit Heidegger und Bahro die charakteristische Sprunghaftigkeit und Verstiegenheit
totalitären Denkens und schälen zugleich analytisch einige seiner
wesentlichen Affekte und Bezugspunkte heraus. Im Aufsatz Im
Liebesstrom zum Globalfaschismus? wird totalitäre Herrschaftsbegründung
bei Sloterdijk und Heidegger als prinzipielle Dehumanisierung der Mehrzahl
und Vergöttlichung einer Minderzahl von Menschen erhellt. Mit ihm
wird erstmals eine systematische Analyse der „Menschenpark“-Ideologie
Sloterdijks vorgelegt und sein Antisemitismus nachgewiesen.
Drei Aufsätze konzentrieren sich auf den Aufweis des totalitären
Charakters der wichtigsten Positionen Heideggers.
Mangels eines komplexen Untersuchungsansatzes, der historische, philosophische,
soziologische, politische, sozial- und individualpsychologische Betrachtungsformen
verbindet, ist die kritische Heidegger-Forschung bisher wenig über
die (ergiebige) Recherche seiner persönlichen Beziehungen und gleichsam
politpsychologischen Neigung zum Nationalsozialismus hinausgelangt. Das
innere Konstruktionsprinzip seiner als philosophisch geltenden Theoreme
wurde jedoch aus Respekt oder aus Resignation vor seiner täuschungsgewaltigen
Begriffsdramaturgie nicht freigelegt. Im Lichte des komplexen analytischen
Ansatzes, der hier in die Forschung eingebracht wird, wird Heideggers ganze Seinslehre
und seine „existenziale Analytik“ als systematische Hinführung
auf ein „Ideal“ der Revolution und des völkischen Behauptungskrieges
sichtbar, für die das eigene Leben geopfert werden soll. Er versuchte
schon viele Jahre vor 1933 polit-esoterische Haltungen universalistisch
zu begründen, die in ihrer praktischen Konsequenz zu eben dem Terrorsystem
führen mußten, das die Nazis dann errichteten.
Andererseits wird erkennbar, wie Heidegger eine persönliche Leidensproblematik,
die aus der bleibenden Abhängigkeit von existenzbedrohlich agierenden
Hierarchien (Kirche und kaiserliche Heeresführung) und hochgradiger
emotionaler Isoliertheit resultierte, in einen todesverklärenden,
unbeschränkt aggressiven und seinerseits unterjochenden Fanatismus
umwandelte. Läßt man sich nicht von seiner auftrumpfenden, scheinsachlichen, überdifferenziert
wirkenden Sprache irritieren und zu falschen Assoziationen aus der eigenen
(friedlicheren) Erfahrungswelt verleiten, dann tauchen aus ihr gespenstische
Fluten von reinen Projektionen, logischen Konfusionen und hinterhältigen
Suggestionen auf. Viele der diesbezüglichen Erkenntnisse in einzelnen
Fragen habe ich dabei der Methode zu verdanken, bisher unbeachtete Stellen
und Passagen in Heideggers Texten zu untersuchen, die Erklärung von
Begriffsinhalten an weit entfernten Textstellen oder in privaten Zeugnissen
zu entdecken und, ihn als Plagiator wissend, nach der Herkunft seiner Positionen
zu forschen. Nicht zuletzt verbergen sich auch in den Vertuschungsmanövern
von Verteidigern, die über seine wirklichen Intentionen wohlinformiert
waren, sehr aussagekräftige Daten.
Zunächst wird im wissenssoziologischen Aufsatz Heideggers
Welt der spezifische soziale Erfahrungs- und Beziehungshintergrund
Heideggers untersucht, der um so mehr in seine Theoriebildung hineinspielte,
je weniger er ihn reflektierte. Im Vergleich der Spuren und Wirkungen der
Lebens- und Bildungshintergründe von Cassirer/Plessner und Heidegger
in deren denkerischen Grundpositionen zeigt sich, wie eng, prätotalitär
und spiritistisch der Horizont Heideggers war, sodaß die Komplementär-
und Kompensationsfunktion seiner kampfstaatlichen Utopie und seiner bisher
unbeachteten volklichen Verschmelzungsfantasien verständlich wird.
Ein Exkurs über die Bezogenheit totalitären Denkens auf einen
rein subjektiven, sozial unvermittelten Willen ist integriert.
Darauf aufbauend werden im Aufsatz Geworfenheit Heideggers
Todeskult und seine Kriegsfixierung mit Hilfe des neu entwickelten Begriffs
des sozialen Autismus betrachtet. Untersucht wird die anhaltende und theoretisierte
sozial-autistische Reaktion Heideggers auf die existenziellen Bedrohungen
durch die deutsche Kriegführung im Ersten Weltkrieg, die als Aufruf
zu Todesbereitschaft und völkischem Kampf unmittelbar an der Formung
des nazistischen Rechtsextremismus mitwirkte. Sein Selbstbild und seine
Ambitionen erweisen sich in diesem Lichte als angstbesetzte und selbstverleugnende
Aggressionen, die die Subordination unter eine den totalen Krieg einleitende
Staatsführung als unbedingte Forderung an die sozial und
politisch Schwächeren weitergaben.
Da der NS eben dasselbe tat, bestand eine innere Zwangsläufigkeit
für Heidegger, sich dieser Formation früher oder später
anzuschließen und in ihm die Rolle eines Chefideologen anzuvisieren.
Seine inzwischen publizierten Vorlesungen von 1933, auf die sich der Aufsatz Das Stehen gegen den Feind bezieht, führen
das eindringlich vor Augen. Auch sein „Privatnationalsozialismus“ (wie
ihm NS-Funktionäre vorwarfen) war ein Nationalsozialismus. Trotz aller
Kritik an der Realpolitik des Regimes, die einer tiefen Enttäuschung über
die Blockade seines Aufstiegs in die Führungsclique entsprang, hörte
er nicht auf, bis zuletzt für den NS zu werben und Hitler zu vergöttlichen.
Seine innere Bindung und seine eigenständige agitatorische Zuarbeit
gipfelte in einer Ontologie der Vernichtung der Feinde des NS, die einen
Abgrund an massenmörderischen Implikationen offenbart. Daneben wird
nachgewiesen, daß sein Grundbegriff des „Daseins“ von
Anfang an eine völkisch-rassische Bedeutung hatte und im Zusammenhang
mit seinem radikalen Revolutionarismus entwickelt wurde.
Im letzten Aufsatz Bin ich, wenn ich nicht denke? wird
der marxistischen und heideggerschen Mystik vom Sein und ihrem reflexionslosen
Erkenntnisbegriff die Klarheit und Verantwortlichkeit der Geisteshaltung
von René Descartes entgegengehalten. Es geht deshalb um die Frage,
was Denken ist und worin die Fundamente einer interessierten, verantwortlichen,
verbindenden und gerechten Grundhaltung des Einzelnen zu den Menschen und
Lebewesen in seiner Umwelt bestehen können.
Alle zitierten Werke sind in den Fußnoten nur mit einem Kurztitel
bezeichnet und im Literaturverzeichnis nachgewiesen. Zitierte Zeitungsartikel
sind am Ort vollständig bezeichnet.
Reinhard Linde,
Berlin im November 2002