Reinhard Linde
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Autor - Writer |
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Auszug
aus dem Aufsatz:
Bin ich, wenn ich nicht denke?
erschienen in dem Buch:
Bin ich, wenn ich nicht denke?
Studien zur Entkräftung, Wirkung und Struktur totalitären
Denkens
Centaurus Verlag Herbolzheim 2003
Inhalt
Denken als Anhängsel des Seins
Vergegenwärtigung und Selbstreflexion
Hommage an René Descartes
Das Unbestechliche und die Vollkommenheit
Aus: Vergegenwärtigung und Selbstreflexion
Ich frage jetzt nicht mehr provozierend, ob ich denn
bin, wenn ich nicht denke. Was wüßte ich dann von mir? Was könnte ich von etwas anderem,
als ich es bin, wissen? Könnte ich erfassen, daß nicht die Landschaft
an mir vorbeifährt, während ich ruhig im Zug sitze und aus dem Fenster
sehe, sondern ich mit dem Zug an ihr vorbeifahre? Könnte ich mit Bestimmtheit
wissen, ob eine Emotion, die ich habe, von mir selbst kommt, ob sie in mir
gleichsam von sich aus entstanden ist, oder ob sie von einem äußeren
Geschehen selbst und unmittelbar erzeugt und vollständig bestimmt ist?
Sie kann unbedingt sein, obwohl sie sich auf äußeres Geschehen bezieht,
in das ich involviert bin, indem sie gleichwohl mehr in sich enthält als
diesen direkten Bezug - vielleicht Erinnerungen an ähnliche Geschehnisse,
Assoziationen, die sich auf Potentielles beziehen, und weitere Implikationen
meines Zusammenhanges mit diesem Äußeren. Wüßte ich zu
unterscheiden, ob ich mich der Auffassung eines Anderen anschließe, weil
ich deren sachliche Gegründetheit wirklich nachvollzogen und eingesehen
habe, oder nur deshalb, weil diese Auffassung Gefühle in mir wachruft,
die mir so vorkommen, als würden sie diese Auffassung bestätigen?
Könnte ich mir bewußt machen und bewußt halten, daß eine
demagogische Macht, hinter deren Plakaten schußbereite Soldaten lauern
oder hinter deren „Sachzwang”-Propaganda nur noch Entlassungsdrohungen
und erstarrte Desorganisation stecken, sich im Namen eines Allgemeinwohls über
alle Wahrheits-, Gerechtigkeits- und Verantwortungskriterien hinwegsetzt und
eine todbringende oder ruinöse, auf jeden Fall sinnlose Opfer fordernde
Arroganz hat?
Wäre ich derjenige, der über etwas urteilt, oder nur begrenzte Teile
meines Verstandes, die nicht fähig sind, die ganze Angelegenheit zu überblicken?
Wüßte ich überhaupt, daß ich handle oder etwas in mir
und aus mir heraus, etwas Äußeres, eine unpersönliche Kraft,
ein anderer Wille? Wüßte ich, daß ich einen Körper habe
bzw. ein Körper bin, und nicht lauter aufeinanderfolgende, aber unzusammenhängende
Anwandlungen einer Masse, die durchaus unselbständiger Teil eines Konglomerates
aus vielen Körpermassen sein könnte? Genau so verstehen sich doch
in unserer Zeit sehr viele Menschen. Wäre ohne Denken ein Gedächtnis
möglich, das ja Verschiedenes, was mir widerfahren und in mir ist, in
einen stetigen und gewissen Zusammenhang bringt, und mir daher klar macht,
daß ich früher und jetzt derselbe bin?
Alle, die behaupten, es wäre nicht nötig, daß ich in diesem
bestimmten Sinne denke, um mir klar zu werden, daß ich bin, das heißt
eine bestimmte Geschichte und eine offene Zukunft neben anderen seienden
und selbstbewegten Wesen habe, legen keinen Wert auf Gedächtnis und
geschichtliche Reflexion. Sie lassen gerade dadurch, daß sie suggerieren,
jeder könne
sich selbst (und vielleicht noch die ganze Welt) aus dem Augenblick heraus
ganz neu schaffen, ihre Aufforderung erkennen, sich einem fremdem Willen
unterzuordnen, der die Einzelnen mit ihrer sukzessive angereicherten Substanz
und ihrer willkürfreien Vergangenheits- und Gegenwartsbezogenheit negiert.
Wenn ich nicht nachdenke, dann bin ich nur vielleicht. Das gilt auch, wenn
ich nicht weiß, daß und wie ich denke, also ob ich diejenige Distanz
zu den Vorgängen außerhalb von mir, in meinem Körper und meinem
Gemüt eingenommen habe, die es erlaubt, daß all die Vermögen
in mir zugleich und kooperativ tätig werden können, die die Aussicht
eröffnen, daß ich eine Wahrheit in der anstehenden Angelegenheit
finden kann. Und weil ich die Wahrheit ja noch nicht kenne, muß ich mich
für alle meine Vermögen offen halten, so daß ich keines, das
mir vielleicht helfen könnte, behindere. Wenn ich nicht denke, bin ich
nicht mit Sicherheit das Wesen, das aus einer Kraft und Einheit wahrnehmen,
einsehen und handeln kann. Ich bin dann in dieser Situation oder Angelegenheit
vielleicht nur der Affekt eines Teiles von mir, so wie wenn ich, von einem
lokalen Schmerz okkupiert, blindlings reagiere, oder ich bin eine abgespaltene
Empfindung, ein bloßer Wunsch. Der Rest meines Körpers oder meines
Gemütes, den ich sonst - aber dieses „sonst” ist selbst schon
wieder ein Resultat von denkender Bewußtmachung - als zu mir gehörend
empfinde, muß sich dann selbst behelfen, weil er meiner gesammelten Aufmerksamkeit
verlustig ist. Was dieser Rest dann einzig tun kann, ist sich mechanisch über
die Runden zu helfen, ohne spezifischen Kontakt zur Umwelt, sofern er nicht
glücklicherweise über eingeübte Vermögen verfügt,
die durchaus gezielt und mit Erfolg in Aktion treten.
Den nichtmenschlichen Lebewesen wird so oft nachgesagt, sie würden sich
von uns unterscheiden, weil sie nicht denken könnten. Sie sind doch
aber, sagen uns unsere Sinne und unsere Erfahrung. Sie haben Dauer, sie verändern
und verhalten sich, aber sie bleiben sie selbst, solange sie leben. Hieße
das, es kann etwas sein, ohne zu denken? Anorganische Materie, an der nur
mechanisch-physikalische oder chemische Reaktionszwänge zu beobachten
sind, kommt durchaus in der Form stabiler und isolierbarer Einheiten vor,
obwohl diese meist in zufällig
entstehenden Konglomeraten über lange Zeit verbunden sind. Warum sollte
nicht auch ich sein, ohne zu denken? Wenn die nichtdenkende, aber doch intelligible „Natur” für
Harmonie, Ausgleich, Abstimmung und dennoch Individualität zu sorgen
scheint, warum sollte sie das nicht auch in mir tun? Warum sollte ich - was
noch am
wenigsten bezweifelt wird - denken müssen, um ein soziales Wesen sein
zu können? Warum soll es, sehe ich einmal von einem Schöpfer ab,
der sich etwas dabei gedacht haben könnte, in der einen Natur eine Differenz
geben zwischen einerseits ungezählten Individuen, für deren Bildung,
Erhaltung und Zusammenhang es genügend allgemeine, antreibende und regulierende
Kräfte und Gesetze gibt, und andererseits solchen Geschöpfen (den
Menschen), bei denen diese Natur allein mit solchen allgemeinen Konstituentien
nicht mehr weiter weiß? Wie und warum stattete sie den Menschen mit
einem Reflexionsvermögen aus, das eine unvergleichliche Kombinationsfähigkeit
hat, darüberhinaus aber auch mit der sonderbaren Freiheit einer gleichsam
offenen Selbstbestimmung? Diese ist doch mitsamt ihrer selbstkontrollierenden
Komponente, dem Gewissen, zweifelsohne unabdingbar, damit die Menschen sowohl
Möglichkeiten als auch Modalitäten eines geordneten und kooperativ-erfüllsamen
Zusammenlebens finden können.
Wieso gibt es eine Schwelle zwischen Partikeln, die nur von Kraftfeldern
und mechanischen Impulsen bewegt zu werden scheinen (anorganische Materie),
und
solchen, die sich von selbst bewegen, die spontan ihre innere Konfiguration
sowie ihre Struktur, ihre Bewegungsrichtungen und ihre Verhaltensweisen ändern
können? Ich weiß nur dann, daß ich bin (und ein anderes
Wesen oder Ding ein anderes ist), wenn ich mich selbst reflektiere und feststelle,
daß ich mitunter aus einem verschiedenen Impuls oder Impulsgemenge
und Hintergrund handle, als andere Wesen. Wenn ich also nicht denke, weiß ich
auch nicht mehr, daß ein anderes Wesen ein Wesen ist, indem es sich
selbst bewegt. Ich habe keine Chance zu bemerken, was in ihm vorgeht und
projiziere
meine Gefühle und Regungen auf es. Ich glaube leicht, daß es dieselben
hätte oder doch haben müßte und wundere mich dann über
dessen Widerstand gegen meine Vereinnahmung.
Alles das muß aber für jedes Lebewesen gelten, sonst könnte
es nicht sein. Ob wir es Denken nennen, was jedes Tier und jede Pflanze,
jedes organische Molekül, jedes selbstbewegte Wesen tut, oder
nicht - eine Selbstreflexion, eine Fähigkeit zur Vergegen-wärtigung komplexer
Sachen, Konstellationen und Prozesse muß es sein. Das einzelne Lebewesen
könnte sonst nicht
lernen, nicht flexibel reagieren, sich keine neuen Bewegungsspielräume
erobern. Daß es einer hochdifferenzierten, inneren materiellen Organisation
bedarf, um Erfahrungen und Leistungen dauerhaft und abrufbar zu strukturieren,
die die Lebewesen je weniger haben, je weiter wir evolutionsgeschichtlich
zurückgehen,
widerspricht ihrer Reflexionsfähigkeit nicht. Jedes Lebewesen ist
fähig,
sich zu sozialisieren, einen vorher nicht gegebenen und nicht determinierbaren
Verbund mitzugestalten - also ist es selbstbestimmungsfähig. Und jedes
lebendige Wesen findet Ausdrucksmöglichkeiten, seinen Sozialpartnern
von seiner komplexen, sozial angelegten Selbstreflexion und von seiner aufmerksamen
Gegenwärtigkeit etwas mitzuteilen.
Denken in diesem Sinne ist die ungeteilte, konzentrierteste Aktivität
des ganzen Individuums. Es sammelt alles, was an körperlich Materiellem
und differenziert Bewegtem (E-motionalem) zu einem Individuum schon gehört,
immer wieder erneut zusammen, auf daß sich das Individuum, neue Vermögen
entfaltend oder alte vertiefend, erweitere. In der sorgenlosen, freien Spannung
des Nachdenkens, der Selbstreflexion respektive der geisti-gen Vergegenwärtigung
entstehen erst die Momente, in denen sich jedes lebendige Wesen innerlich
genauer und handlungsfähiger organisieren kann. Wenn nicht jedes Lebewesen
die Fähigkeit zur tendenziellen Selbstbestimmung im Ganzen eines Belangs
hat bzw. immer neue derartige Fähigkeiten dazu gewinnt (im quantitativen
Ganzen aller möglichen Belange zusammen kann sie allerdings nicht entstehen),
dann wird es zwangsläufig von außen bzw. von indifferenten allgemein-mechanischen
Kräften bestimmt, die das besondere Lebewesen nicht meinen und es also
auch nicht zielstrebig fördern können. Immer dort und dann, wo
ein Individuum nicht mit seiner Geistesgegenwart ist, das heißt wenn
es nicht auf der Suche nach einer Gewißheit ist, womit es denn zu tun
hat, ist es nur ein Reaktionsbündel. Daß es dann immer noch ein
einheitlicher Körper sein kann, der nicht gleich zerfällt, und
ein eigentümliches
Gemüt, das sich nicht völlig in unzusammenhängende Affekte
auflöst,
verdankt es all den vielen selbstreflexiven Akten, innerhalb derer es sich
in seiner Vergangenheit (im Verbund mit anderen Wesen) strukturiert und auf
den Boden von Wahrheiten gestellt hat, die ihm stabile und zugleich bewegliche
innere und äußere Beziehungen und vor allem den Zugang zu komplexen
Wirklichkeitsbereichen ermöglichen.
Hört aber die Selbstreflexion auf, die Integration neuer Erfahrungen und
unvoraussehbarer Ereignisse, dann tritt Erstarrung im Verhalten und Verstehen
beziehungsweise im Vermuten ein. Dann wird jedes Individuum in absehbarer Zeit
zum Opfer dessen, was ihm nicht zugewandt und was weder an seiner Erhaltung
noch an seiner Erfüllung interessiert ist. Davon gibt es in der Welt,
in der „Natur” und innerhalb von Gesellschaften immer genug.
Ist ein Anderer, wenn er nicht denkt? So scheint es doch zu sein, wenn Tiere
von instinktiven Reaktionen übermannt werden oder wenn fanatische Menschen über
ihr ganzes Leben hinweg die wichtigsten Dinge unbesonnen anpacken, von keinem
tatsächlichen Verderben belehrbar, das sie anrichten oder unterstützen.
Einer bleibt doch körperlich da, auch wenn er geistig abwesend ist,
nicht im eigentlichen Sinne denkt. Wir wissen, daß in allen organischen
Einzelformationen Teil- und Gesamtfunktionen über lange Zeit mechanisch
aufrechterhalten werden. Aber kann das vom Mechanischen selbst her garantiert
sein? Wir wissen
ja auch, daß mechanisch gewiß nur die Entropie ist,
die Auflösung
aller energetischen und förmlichen Differenzen. Also muß doch
für
die Dauer des bestimmten mechanischen Gebildes etwas von innen her Zusammenhaltendes
in jedem Augenblick sein. Nichtindividuelle Formationen sind entropisch,
weil sie keinen sammelnden Eigenimpuls haben. Wenn sich aber ein Individuelles
nicht
immer wieder erneut sammelt und denkt (selbstreflektiv erweitert), hilft
ihm auch keine blind-gerichtete „Selbstorganisation” mehr. Der
Zombie, ein seelisch devitaler Kör-per, ist nur als menschliche Abnormität
möglich - wenn er von Artgenossen psychisch und physisch weitergefüttert
wird. Ansonsten wäre ein Kosmos aus nicht selbstbewegten oder chaotisch
changierenden Individualitäten respektive Systemen, die von zufälligen
Energiezufuhren und Impulsen von außen abhängen, sinnlos und extrem
instabil, weil es keinerlei persönlich geartetes und Kontinuität
begründendes Interesse an seinen einzelnen Gestaltungen gäbe.
Die hier praktizierte Gleichbehandlung von Denken und komplexer Selbstreflexion
soll nicht den Umstand verwischen, daß Denken zunächst mit Sprachfähigkeit
verbunden erscheint, die die Tiere und Pflanzen zumindest auf der menschlichen
Abstraktionsebene nicht haben und die für andere Formen der Selbstreflexion
nur eine untergeordnete Rolle spielt (wie z.B. in der bildenden Kunst). Auf
diese Differenz einzugehen, ist hier nur in der Form des Hinweises möglich,
daß es keineswegs als ausgemacht gelten kann, sondern vielmehr als Verweigerung
aufmerksamer Beobachtung angesehen werden muß, wenn unterstellt wird,
daß jene ausdrucksmäßig andersgearteten oder weniger komplexen
Reflexionsformen auch im Rang und der Kraft der Vergegenwärtigung geringer seien. Dessen ungeachtet ist es nicht möglich und auch nicht zu fordern,
daß wir immerzu in Form sprachlicher Formulierung denken müssen.
Doch an nichts hängt unsere Existenz mehr als an der Bereitschaft, dem
Willen und der Kraft (die durch Übung wächst), zu denken im Sinne
komplexer Selbstreflexion, Gesamtvergegenwärtigung und ungezwungener,
offen interessierter Selbstdistanz. Denn das ist nichts anderes, als für
die Komplexität der Dinge und Vorgänge, die in jedem Augenblick gegeben
ist, offen zu sein, oder anders gesagt, die Dinge und Vorgänge zu lieben.
Nur im Falle der Bedrohung durch starke, blinde mechanische Potentiale ist
das nicht möglich.
...
Aus: Das Unbestechliche und die Vollkommenheit
Die positivistisch-mathematischen Wissenschaften haben jene
Kräfteströme
und Kräfte-konstellationen zum Gegenstand, die gewissermaßen quer
durch alle belebten oder unbelebten Bildungen gehen und durch technisch-gewaltsame
Prozeduren (unter Isolationsbe-dingungen) wiedererzeugt werden können.
Sie fragen nicht nach Substanzen und wirkli-chen Einheiten, sondern verrechnen
mechanische Kräfte und ordnen Quantitäten nach Kriterien der statistischen
Wahrscheinlichkeit. Das ist kein Problem, wenn nicht von dorther auf das übergegriffen
wird, was vor solchen allgemeinen Kräften nur flüchtig und beinahe überflüssig,
als ein Epiphänomen erscheint - das, was so lange Seele genannt wurde,
der Punkt, von dem aus die besonderen Konkretionen der lebendigen ausgedehnten
Körper überhaupt erst einen je individuellen Sinn, ein zweckfrei
Erfülltes und auf seine eigene Erweiterung Gespanntes gewinnen. Übergriffe
dieser Art finden aber immer wieder durch philosophierende Physiker oder
Biologen und durch physikalistisch-biologistische Philosophen statt. Die
Warnung von
Leibniz, „solange man nicht unterscheiden kann, was wirklich selbständiges
Ding bzw. eine Substanz ist, und was nicht, kann man nirgends Fuß fassen.”,
hat deshalb eine große Bedeutung.
Diese Philosophen und Esoteriker postulieren überindividuelle und kosmische,
als „geistig“, „transzendent“ oder „Weltseele“ ausgegebene
Entitäten, die sich bei genauerem Hinsehen als Übersprünge herausstellen,
die dem changierenden Ansammlungs- und Räumlichkeitscharakter des erscheinenden
Materiellen stark verhaftet bleiben. Dabei wird nur ein bestimmter Teil aus
dem großen Reservoir des individuellen psychischen Geschehens, nämlich
der mechanisch-reflexhafte, nur reaktiven Wille, auf homogenisierte Erscheinungen
von überindividueller und welthafter Dimension ausgedehnt (auf das, „was
ich nicht erkannt habe”). Das ohnmächtige, zufällige Individuum
soll sich in einem großen Ganzen aufgehoben fühlen. Aufgehoben wird
es tatsächlich. Denn wenn es nur allgemeine Absichten geben soll, die
in den Gesetzen und Zwecken der Materie, des Kosmos, „der“ Natur,
der Evolution, der „immanenten Ideen“, der „Gattungen“ oder
in denen „der“ Geschichte liegen, dann macht es nichts, wenn diesen
Entitäten vieles nicht gelingt. Dann lassen sie etwas heraus und holen
es wieder ein, weil sie ja wieder Neues machen können. Dann ist
das Einzelne nicht wichtig, es kommt nicht darauf an, daß es sich auf selbsterlebbare
Weise erfüllt und selbstbestimmt. Auch in den esoterischen Fiktionen von „Energie”, „Geist” oder „Licht” dehnt sich etwas Homogenes nur überall hin aus. Geist ist aber nur als deutliche
Konkretions- und Differenzierungsfähigkeit real. Und zu wissen, womit
man es tatsächlich jeweils zu tun hat, ist allein auf der Grundlage der
Vergewisserung möglich, ob und inwieweit sich ein unterscheidbarer Körper
selbst bewegt oder nicht. Die genannten Vorstellungskomplexe sind deshalb keine
Entitäten und keine Wirklichkeiten, weil sie jeweils keinen zusammenhängenden
Körper mit einem gerichteten, unbedingten, aus ihm selbst kommenden Impuls
bzw. Impulsgefüge bilden. Ein jeweiliger transzendenter, einiger Geist
können sie wiederum nicht sein, weil ihnen das einzelne Individuum in
seiner eigentümlichen Entwicklung und Selbsterfüllsamkeit gleichgültig
ist.
Deshalb basieren totalitäre Denk- und Handlungssysteme immer auf der Behauptung,
die Grundlage des kollektiven Lebens bestünde in einer dieser Entitäten.
Für das Einzelleben haben sie kein anderes Angebot, als bloßer Durchgangspunkt
und relativer Erfüllungsort ihrer allgemeinen Bewegung zu sein. Der Geist
dieser jeweiligen Entität ist dort immer als unmittelbares, mechanisches
Movens in der Physis der Einzelnen gesehen. Er determiniert diese - mithin
die Persönlichkeit - hinterrücks, also gleichgültig, ob der
Einzelne von ihr weiß und mit ihren unpersönlichen Bestimmungen
einverstanden ist. Reagiert er aus einem unerklärlichen Potential des
Widerstrebens nicht in der beabsichtigten Weise, dann „funktioniert“ er
nicht, er gilt als Person gegenüber der transzendenten Macht als
krank.
Die Vernichtung des Einzelnen, der sich der Entität nicht fügt, ist
deshalb in dem ideologi-schen Grundschema schon vorge-dacht. In der Beschreibung
der geltend gemachten Entität drückt sich daher stets nur der verschleierte
Machtanspruch einer menschenfeindlichen Menschengruppe aus.
Etwas ganz anderes ist die Vorstellung eines Schöpfers, der jedes von
ihm Geschaffene ganz und gar, unbedingt und unreduzierbar meint und fördert.
Will man über die vergänglichen und meist unvollkommenen Kräfte,
die man aus sich selbst hat, hinaus eine Sicherheit gewinnen, so ist die Annahme
einer Substanz unumgänglich, die ausnahmsweise tatsächlich rein geistig
und in diesem Sinne die einzige allgemeine ist. Man kann diese Substanz Gott
nennen, aber auch das „Unbestechliche“. Denn kein Wesen kann leben,
das heißt Dauer haben und Fülle gewinnen, wenn nicht ein unbestechliches
Moment bei ihm ist, das mit höchster Genauigkeit die Regungen gutheißt
und bekräftigt, die wirklich Dauer, über sich selbst hinausgehende
Konstruktivität und differenzierbaren Gehalt haben, und das die Anwandlungen
schlechtheißt und entkräftet, die in sich nur Flüchtigkeit,
unpersönliche Destruktivität und Pauschalität tragen. Das kann
selbst die strengste und selbstkontrollierteste Vernunft als oberste Instanz,
die jedoch allein an den Menschen gebunden ist, nicht leisten. Auch deshalb
blieben solche geistesstarken Verteidiger der Vernunft wie Immanuel Kant und
René Descartes religiös. Die grassierende Rationalitätskritik
hingegen verwirft Vernunft und autonome Freiheit, die auf Einsicht beruht (den
versammelten individuellen Geist), weil sie auf eine Selbstauslieferung an
eine der oben genannten Pseudoentitäten hinführen will. Sie bleibt
unfruchtbar, weil sie ein unbestechlich Wahrhaftiges negiert, das zugleich
unendlich flexibel und liebevoll-offen auf die Impulse jedes einzelnen Lebendigen
reagiert.
Denken ist der konzentrierte Sinn, der in konkreten Angelegenheiten in offener
Weise auch alles das zu berücksichtigen sucht, was man sonst noch braucht,
wünscht und was sich erfüllen soll. Inneres Suchen nach dem, was
denn in einer bestimmten Beziehung Vollkommenheit wäre und von woher
eine Kraft zuströmt, die größer als die willentlich aufrufbare
ist und zu mehr Vollkommenheit hinträgt, beruht auf denkender Gläubigkeit.
Ohne daß es eines konfessionellen Aktes bedürfte, entsteht sie
im Bewußtmachen des einfachen Umstandes, daß Wahrheit weder aus
den Affekten oder aus der Willkür einzelner Men-schen noch aus anonymen
Determinationen stammen kann. Denken - als Nachdenken, ohne theoretisch-methodische
Raster
- ist möglich und findet fruchtbare Wahrheiten, wenn es sich mit Gläubigkeit
an das ganz unbedingt existierende und jedem Einzelnen unbedingt zugewandte,
Wahrheit tragende Moment wendet. Ohne solche Gläubigkeit kommt Denken
nicht weit, es muß sich dann auf systematisches und analogisierendes
Vermuten beschränken. Ohne Denken kommt wiederum Gläubigkeit nicht
weit. Sie entleert sich und bleibt als fatalistische Passivität zurück,
die sich selbst Erlöstheit suggeriert.
Wenn Denken als tätige Hinwendung und Liebe zu anderen einzelnen
Wesen, zu konkreten Dingen, Zusammenhängen und Prozessen begriffen wird,
dann öffnet
sich auch der Sinn dafür, daß sich andere Wesen einem selbst zuwenden
und daß es Momente und Ebenen gibt, in und auf denen eine Zuwendung
geschieht, die nicht allein einzelmenschlich sein kann. Sieht man diese an,
wird spürbar, daß der innere Grund jeder Existenz - was sie auch
geschaffen haben mag - nicht ein Allgemeines, „Normales”, Gleichgeformtes
ist, sondern ihre Eigentümlichkeit und Besonderheit selbst, die sich
mit derjenigen von anderen Wesen verbinden kann. In diesem Sinne ist jedes
Lebewesen
zuerst besonders, weil aus Liebe geschaffen und liebesfähig - nur Individuelles
kann lieben und geliebt werden. Ein gleichförmiges Allgemeines kann
das nicht und hat deshalb kein Sein. Deshalb ist ein staatlich vereintes
Volk nicht
vollkommener oder als ein kulturell und ethnisch verbundenes, aber über
die Welt zerstreutes. Ein kommunistischer Traum ist genauso irreal wie die
Wohlstandsvortäuschungen eines gierigen Kapitalismus, der die natürlichen
Ressourcen plündert. Homosexuelle Menschen sind nicht weniger kreativ,
fürsorglich und liebesfähig als heterosexuelle.
Ich habe eine Urteilskraft aus mir selbst, aus eigener geistiger Spannung.
Aber kann sie, da ich doch irren kann, weil mein Wille sich weiter erstrecken
kann als mein Verstand - weil ich ihn, wie Descartes sagt, auf das ausdehnen
kann, „was ich nicht erkannt habe” - vollkommen unbestechlich
sein? Zweifelsohne nicht. Deshalb ist es ein ungemein berührender unter
den vielen hochkomplexen Gottesbeweisen von Descartes, wenn er sagt: „Vor
allem erkenne ich die Unmöglichkeit, daß Gott mich je täuschen
kann; denn in jeder Täuschung und jedem Betrug ist eine Unvollkommenheit
enthalten, ... beweist doch der Wille zu täuschen zweifellos Bosheit
oder Schwäche und kann sich darum bei Gott nicht finden.” Das
bedeutet, daß ich nur denken kann und alle existierenden individuellen
Wesen sich nur dann selbst reflektieren können, wenn ein von mir unabhängiges
Moment besteht, das mich und alle anderen Wesen genau kennt und mit Sicherheit
entscheiden kann, ob ich zu den Teilen meiner selbst und zu den Wesen in
meiner Umwelt wahrhaftige, konstruktive und gemeinsam erfüllende Beziehungen
entfalte, wenn ich es befrage.
...